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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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man seine Basketballstiefel, und das taten eigentlich alle Auswahlspieler, auch abseits des Feldes, war es cooler Allgemeinbrauch, die Schuhe locker, weit unten zu binden oder gar keine Schleife zu machen und die Bänder ungeknotet seitlich neben die Laschen hineinzustopfen. Diese Laschen waren breit, wulstig und auf der Unterseite rot. Wie große Zungen quollen sie aus den klobigen Schuhen.
    Ich lief den kurzen Weg von unserem Haus über das Gelände der Psychiatrie bis zur Straße und dann in den Wald hinein. Es war warm und aus den tief hängenden Wolken nieselte es leicht. Nach ein paar hundert Metern spürte ich ein wohlvertrautes Kratzen im Rachen, ein Jucken am Gaumen, ein Kribbeln in der Nase, ein Brennen in den Augen. Erst in diesem Augenblick, als ich durch den heimatlichen Wald joggte, begriff ich, dass ich in der klaren Hochplateauluft Laramies ein ganzes Jahr lang keinen einzigen Tag Heuschnupfen gehabt hatte. Doch hier in diesem feuchten Nieselregengehölz schwoll meine Nase zu und ich musste durch den Mund atmen. Ich lief eine große Runde und kam zur Straße zurück. Früher, vor meinem einjährigen Höhentraining, war ich am Ende dieser knapp fünf Kilometer langen Strecke immer ausgepumpt und zufrieden gewesen. Doch jetzt war ich nicht im Geringsten angestrengt und beschloss, noch eine Runde zu laufen. Die Wolken hingen so tief, dass es mir vorkam, als würden sie nur deshalb nicht auf die Erde knallen, weil sie von den Wipfeln der Bäume gestützt wurden. Ein waberndes Gewölbe auf hölzernen Pfeilern. Der vollgesogene Waldboden federte und schmatzte unter meinen Stiefeln und ich lief schneller. Es half nichts. Auch die zweite Runde hatte mich nicht im Geringsten erschöpft. Mein mit roten Blutkörperchen gesättigtes Blut floss dickflüssig durch die Adern, die Luft strömte gelassen in meine Sechsliterlunge und wieder hinaus, und mein Puls verharrte stoisch bei knapp unter fünfzig. Also noch eine Runde!
    Jetzt lief ich richtig schnell. Die roten Laschen der zum Joggen eigentlich völlig ungeeigneten, da zu schweren Basketballstiefel klappten bei jedem Schritt auf und zu. Der Himmel wurde immer dunkler. Graue, prall gefüllte Regeneuter, aus denen es aber weiterhin nur kümmerlich nieselte. Die Luft war erfüllt von einer unangenehm fieseligen Feuchtigkeit. Nach meiner Nase, durch die ich längst keine Luft mehr bekam, schwollen nun auch meine Augen mehr und mehr zu. Das Kratzen im Rachen versuchte ich durch Schlucken und Schaben mit dem Zungengrund zu vertreiben. »Wann«, dachte ich, »regnet das denn endlich los? Ich brauche eine Abkühlung. Was sind denn das für drückende Wolken?« Kalter Schweiß rann mir über die Stirn und den Rücken hinab. Juckende, die Haut reizende Bächlein. Ich nieste mehrmals, wischte mir mit der Armbeuge über die Nase, die Augen, gab einen Moment nicht acht und trat in eine Pfütze, über die ich während der beiden Runden zuvor stets locker hinweggesetzt hatte. Mein Schuh versank samt Lasche im Matsch. Als ich ihn hinauszog, gab es ein saugendes Schlürfgeräusch, und mein über alles geliebter Basketballschnürstiefel war schwarz verschlammt und doppelt so schwer. »Nicht stehen bleiben«, dachte ich nur, »bloß nicht stehen bleiben! Stehen bleiben ist verboten!« Beim Weiterlaufen versuchte ich, die Matschmenge am Klumpfuß durch ruckartige Schüttelbewegungen zu reduzieren. Doch die dunkle Pampe saß fest wie ein Gehgips. Die vollgesogene Schuhlasche schlappte gegen meinen Spann und nun klang es wirklich so, als würde eine große Zunge an mir herumschlecken.
    Als ich zum dritten Mal die Straße erreichte, die dritte Runde zu Ende ging, ich also fünfzehn Kilometer gelaufen war, war ich immer noch nicht erschöpft. Nase und Augen waren zwar zugeschwollen, alles juckte, aber ich fühlte keinerlei Ermüdung. Und da rannte ich weiter. Diesmal so schnell ich konnte. Hügel auf, Hügel ab, die lange Gerade entlang und an der Matschpfütze vorbei. Meine Lunge, mein Herz, meine Beine pumpten und stampften und liefen unverdrossen, unermüdlich, ja unerbittlich vor sich hin. Schneller, schneller, schneller! Der Sprühregen, die feuchte Waldluft, die nassen Farnspitzen an den Schienbeinen. »Lauf«, dachte ich, »renn so schnell du kannst! Lauf so schnell, als ginge es um dein Leben.« Das Jucken in meiner Luftröhre wurde so stark, dass ich mir am liebsten einen Zweig abgebrochen hätte, um mir damit in der Kehle herumzustochern. Ja, ich stellte mir vor, wie ich
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