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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Jeans, kaputten Turnschuhen und einem T-Shirt bekleidet. Auf dem T-Shirt erkannte ich, verwaschen und verfleckt, ein Baby in Windeln, das am Daumen nuckelte und mit der anderen Hand ein Victory-Zeichen machte. Die Frau schien etwas verloren zu haben. Schon während sie das Abteil betrat, zwängte sie ihre Fingerspitzen in die engen Hintertaschen ihrer Jeans. Sie nahm mich gar nicht wahr. Wie bei einer Leibesvisitation fuhr sie sich mit den Handflächen über ihr T-Shirt, die knochigen Rippen, über den Bauch, fingerte am Hosenbund herum. Dann schob sie ihre Fingerspitzen in die Vordertaschen. Sie zog dabei den Bauch ein, um tiefer hineinfassen zu können. Sie stand aufrecht im Abteil, auf ihren staksigen Beinen, und schwankte hin und her. Nach einer weiteren gründlichen Durchsuchung der Vorder- und Hintertaschen setzte sie sich mir schräg gegenüber und strich sich mit zitternden Händen über die Oberschenkel. Die Fingerkuppen der einen Hand waren bis in die Fingernägel hinein gelbbraun verfärbt, die Adern auf ihren Handrücken geschwollene bläuliche Würmer. Da sie mich überhaupt nicht bemerkt zu haben schien, sah ich sie mir ganz unverhohlen an. Was sie wohl suchte? Sollte ich sie ansprechen, ihr meine Hilfe anbieten? War sie betrunken? Unverständliches Zeug murmelnd verbarg sie ihr Gesicht in den Händen. Keine Minute saß sie so da. Dann stand sie auch schon wieder auf, begann zu suchen, nicht hektisch, eher wie in Trance, gefangen in einer verzweifelten Zeitlupe. Erschöpft, verlangsamt, von Nebelwänden umstellt schob sie wieder und wieder die Hände in die Vordertaschen, dann in die Gesäßtaschen ihrer Jeans. Fuhr sich über das T-Shirt und schob sich die Hände unter den Stoff. Es sah aus, als ob sie jede einzelne Rippe zählen, als ob sie etwas unter ihrer Haut suchen würde. Sie verrenkte sich, schob sich die Hände zwischen die Schulterblätter. Dann in knetenden Bewegungen die dürren Spinnenbeine hinab bis zu den ausgelatschten Turnschuhen. Immer wieder setzte sie sich, suchte im Sitzen, um kurz darauf wieder aufzustehen und im Stehen noch gründlicher zu suchen. Diese akribische Sorgfalt, obwohl sie traurig und sinnlos aussah, bewunderte ich. Diese Uneinsichtigkeit und Unbelehrbarkeit! Diese unerschütterliche Gründlichkeit war beeindruckend. Mich faszinierte ihre Konzentrationsfähigkeit, ihre Hingabe, sich auschließlich dieser einen und einzigen Tätigkeit, der des Suchens, zu widmen.
    Für mich war die Aufforderung, mich zu konzentrieren, eine Folter. Solange ich denken kann, sagen mir Menschen, und zwar nicht bösartige Menschen, sondern freundliche, nachsichtige, aufgeschlossene, mit den Weihen der modernen Pädagogik vertraute Menschen, dass ich mich konzentrieren solle. Beim Schreiben: Sauklaue! Beim Lesen: Leseschwäche! Beim Zeichnen: die Kuh! Beim Rechnen: Taschenrechner aus! Beim Reden: erst denken, dann sprechen, sonst Wortsalat und Kauderwelsch! Konzentriere dich! Konzentration war der goldene Schlüssel, der die Panzertür zu jedem meiner Probleme öffnen sollte. Konzentriere dich! Das war der Geheimcode. Ich hab es versucht und geglaubt, was man mir versprach. Umsonst. Ich sah ihn genau vor mir, diesen sorgfältigen, gründlichen, ordentlichen und hoch konzentrierten kleinen, zauberhaften Kerl, der ich gern gewesen wäre. Dem die Tinte nicht verwischt, der auf die Frage nach seinem Hobby »Hausaufgaben machen« antwortet, der Klavier spielt und den die Lehrer nach der Schule auf Händen nach Hause tragen. Ein genialischer Knirps, der sich stundenlang, ach was, tagelang, am besten gleich ein ganzes Leben lang anspruchslos und hoch konzentriert mit sich selbst beschäftigt. Diese Aufforderung sitzt mir noch heute unerbittlich auf der Schulter, ein preußischer Zuchtmeister, der mir seine Sporen ins Fleisch schlägt und brüllt: Konzentriere dich! Hör auf, so rumzuzappeln, und KONZENTRIERE DICH !!!
    Was war bloß mit meinem Gehirn los? War es zu weich? Ein Brei? Am liebsten hätte ich mir in den Kopf gegriffen, um aus dieser zu nichts zu gebrauchenden Gehirnmasse einen scharfkantigen Ziegelstein zu formen.
    Jetzt zog die Frau sogar ihre Schuhe aus, griff hinein, drehte sie um und schüttelte sie, als wäre sie am Strand spazieren gegangen. Ich verstand einzelne Worte. »Ohh nee. Gibt’s doch nicht!« oder »Scheiße, kann doch nicht …« oder »Bitte, bitte nicht … nee!«. Keine noch so genaue Suche konnte sie davon überzeugen, dass das, was sie suchte, ganz offensichtlich
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