Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
Vom Netzwerk:
in seiner Lethargie aber gnadenlos zielstrebig. Ich habe nie wieder jemanden gesehen, der so langsam hinfallen konnte wie er. In schicksalsergebener Ruhe stolperte er über seinen Klumpfuß und schlug auf die Schwimmhallenfliesen auf wie eine vom Sockel gestoßene Statue – ohne sich abzustützen. Im Wasser verweigerte er jede Schwimmbewegung, tauchte aber für sein Leben gern. Holte tief Luft und ließ sich vom Rand ins Wasser plumpsen und herabsinken. Bevor er das tat, rief er meinen Namen. Ich musste ihn retten und zum Beckenrand schleppen.
    Und einmal ist er, ohne es mir vorher zu sagen, auf das Dreimeterbrett geklettert, über das Springen-Verboten-Schild hinweg. Vom Sprungbrett aus rief er meinen Namen und ließ sich fallen. Es war laut in der Halle. Meine Schwimmgruppe war mittlerweile viel zu groß geworden. Ein Mädchen, das mir ihre Katzenkrallen in die Schultern bohrte, kreischte in mein Ohr: »Mir ist kalt, ich muss mal Pipi, ich hab Angst!« Hatte da nicht eben jemand meinen Namen gerufen? War da nicht eben am äußersten Rand meines Sichtfeldes ein Leopard durch die Luft geflogen? Ich glaube, ich hatte bis dahin noch nie so einen Schreck bekommen. Einen Schreck ganz aus der Erkenntnis heraus, ohne direkte Fremdeinwirkung. Ich setzte das Mädchen zu den anderen auf den Beckenrand, »Bleibt da sitzen!«, rannte ein Stück vom flachen harmlosen Hellblau des Nichtschwimmerbereichs bis zum dunkelblau schimmernden Wasser unter dem Dreimeterbrett und sprang kopfüber hinein. Ich sah Ole am Grund. Ich rief ins Wasser: ein blubbernder Schrei. In circa vier Meter fünfzig Tiefe schwebte Ole knapp über dem Boden. Die Arme ausgebreitet, die Wangen aufgeblasen. Ein träges U-Boot. Ich erreichte ihn, spürte, so tief war es, den Druck auf den Ohren, packte ihn und riss ihn mit nach oben. Wir durchbrachen die Wasseroberfläche und noch ehe ich ihn schimpfen konnte, fiel er mir um den Hals, umarmte mich und rief: »Boahh, war das toll da unten! Komm gleich noch mal!«
    Danach halbierte ich meine Gruppe und Ole gab ich Einzelunterricht. Es dauerte Wochen, bis er begriff, dass es nicht genügte, die Schwimmbewegungen zu kennen, sondern dass er sie, um nicht unterzugehen, mit einem Minimum an Kraft auch machen musste. Er aber stand senkrecht im Wasser, rührte vorsichtig mit den Armen und bekam, so als hätte er Füße aus Eisen, den Leopardenhintern nicht hoch. Augen, Nase und Mund nur knapp über der Oberfläche, ein treibendes Halbrelief, so starrte er an die Hallendecke. Aber er machte sein Seepferdchen. Nirgendwo steht, wie lange man für die fünfundzwanzig Meter brauchen darf. Nach wenigen Zügen war er total erschöpft, hatte keine Lust mehr, machte eine Runde Toter Mann und ließ sich bis ins Ziel treiben. Toter Mann, das gefiel ihm, das konnte und mochte er.
    Der Zug fuhr in den Bahnhof ein: Hamburg-Altona. Ich war da! Zog den Bullensack zu, warf ihn in die Sporttasche und stieg aus. Noch nie war ich ganz allein in Hamburg gewesen. Doch über Hamburg gehört hatte ich schon einiges. Hamburg bot jede Menge Gesprächsstoff auf ganz unterschiedlichen Gebieten. Drei große Hs standen für Hamburg. H wie Hauptbahnhof, H wie Hafenstraße und H wie Herbertstraße. Und über jedes dieser Hs wollte ich nach diesem Tag mehr wissen, als ich gehört und mir vorgestellt hatte.
    Eine halbe Stunde später war ich beim ersten H, dem Hauptbahnhof. Ein Freund hatte mir erzählt, dass man auf der Rückseite des Bahnhofs etwas Erstaunliches sehen könne. Ich würde, so der Freund, meinen Augen nicht trauen. Ich suchte die beschriebene Stelle und ließ meinen Blick über den aus schweren Kalksteinblöcken gemauerten Sims der Bahnhofsmauer gleiten. Da entdeckte ich es. Mehrere der großen Steine hatten tiefe Abschabungen und Rillen, waren teilweise völlig zerklüftet. »Stell dich etwas abseits und beobachte die Mauer. Meistens muss man keine fünf Minuten warten!«, hatte der Freund mir empfohlen. Und er hatte recht. Kaum hatte ich mich etwas entfernt, kamen zwei Gestalten heran und machten sich an der Mauer zu schaffen. Eine Frau und ein Mann. Beide glichen auf eigenartige Weise der abgemagerten, sich selbst abtastenden Erscheinung, der ich im Zug gegenübergesessen hatte. Die linkischen verlangsamten Bewegungen, die unter den Haaren nur schemenhaft erkennbaren verhärmten Gesichter, die schmerzliche Getriebenheit. Gleichzeitig auf der Suche und auf der Flucht. Die Frau nahm ein Geldstück, kratzte damit an der Mauer herum und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher