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Die souveraene Leserin

Die souveraene Leserin

Titel: Die souveraene Leserin
Autoren: Alan Bennett
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Auf Windsor gab es ein abendliches Staatsbankett, und als der französische Präsident seine Position neben Ihrer Majestät eingenommen hatte, reihte sich die königliche Familie dahinter auf, und die Prozession setzte sich langsam in Richtung Waterloo Chamber in Bewegung.
    »Wo wir jetzt unter uns sind«, sagte die Queen, nach rechts und links lächelnd, während sie durch die glanzvolle Gesellschaft glitten, »kann ich Sie – was mir schon lange auf dem Herzen liegt – nach dem Schriftsteller Jean Genet ausfragen.«
    »Ah«, sagte der Präsident. »Oui.«
    Die Marseillaise und God Save The Queen unterbrachen ihre Unterhaltung, doch als sie beide Platz genommen hatten, wandte sich Ihre Majestät an den Präsidenten, um den Faden wieder aufzunehmen.
    »Sicher, er war homosexuell und ein Sträfling, aber war er tatsächlich so schlimm, wie man ihn darstellte? Oder besser gesagt«, und damit ergriff sie ihren Suppenlöffel, »war er tatsächlich so gut?«
    Da der Präsident auf Konversation über einen kahlköpfigen Skandalschriftsteller nicht vorbereitet war, hielt er hektisch nach seiner Kulturministerin Ausschau. Doch die wurde gerade vom Erzbischof von Canterbury angesprochen.
    »Jean Genet«, wiederholte die Queen hilfsbereit. »Vous le connaissez?«
    »Bien sûr«, antwortete der Präsident.
    »Il m’intéresse«, sagte die Queen.
    »Vraiment?« Der Präsident ließ den Löffel sinken. Das würde ein langer Abend werden.
    Die Hunde waren schuld. Sie waren Snobs, und üblicherweise liefen sie nach einem Gartenausflug die Vordertreppe hinauf, wo ihnen ein Bediensteter die Tür öffnete. Heute jedoch rannten sie aus irgendeinem Grund über die Terrasse, kläfften wie besessen, hoppelten die Stufen wieder hinunter und bogen um die Hausecke, wo man sie in einem der Höfe etwas anbellen hörte.
    Es handelte sich um den Bücherbus der Bezirksbibliothek der City of Westminster, einen großen Lieferwagen, der nach Spedition aussah und neben den Abfalleimern vor einer der Küchentüren parkte. Diesen Teil des Palastes bekam sie nicht oft zu Gesicht, und ganz bestimmt hatte sie den Bus noch nie hier gesehen, die Hunde anscheinend genauso wenig, daher ihr Gekläffe; nachdem sie also vergeblich versucht hatte, die Tiere zu beruhigen, stieg sie die Trittstufen in den Lieferwagen empor, um sich zu entschuldigen.
    Der Fahrer saß mit dem Rücken zu ihr an einem Tischchen und klebte ein Etikett auf ein Buch, und der anscheinend einzige Entleiher war ein dünner, rothaariger Junge im weißen Overall, der im Mittelgang hockte und las. Keiner von beiden nahm Notiz von ihr, also räusperte sie sich und sagte: »Bitte entschuldigen Sie diesen schrecklichen Lärm«, worauf der Fahrer so hastig aufstand, dass er mit dem Kopf an die Nachschlagewerke stieß und der Junge im Gang sich aufrappelte und dabei Photographie & Mode umwarf.
    Sie steckte den Kopf aus der Tür. »Wollt ihr jetzt wohl still sein, ihr dummen Dinger« – was dem Fahrer und Bibliothekar Zeit gab, sich zu sammeln, und dem Jungen, die Bücher aufzuheben, genau wie sie es beabsichtigt hatte.
    »Man hat Sie hier noch nie gesehen, Mr…«
    »Hutchings, Eure Majestät. Jeden Mittwoch, Ma’am.«
    »Tatsächlich? Das wusste ich gar nicht. Kommen Sie von weit her?«
    »Bloß aus Westminster, Ma’am.«
    »Und Sie sind…?«
    »Norman, Ma’am. Seakins.«
    »Und wo arbeiten Sie?«
    »In der Küche, Ma’am.«
    »Ach. Haben Sie da viel Zeit zum Lesen?«
    »Eher nicht, Ma’am.«
    »Genau wie ich. Aber wenn man schon einmal hier ist, sollte man wohl auch ein Buch ausleihen.«
    Mr. Hutchings lächelte hilfsbereit.
    »Können Sie irgendetwas empfehlen?«
    »Was lesen Eure Majestät denn gern?«
    Die Queen zögerte, denn – um ehrlich zu sein – sie wusste es nicht. Sie hatte sich nie sehr fürs Lesen interessiert. Natürlich las sie, wie man das eben tat, aber Bücher gern lesen, das überließ sie anderen. Das war ein Hobby, und ihr Beruf brachte es mit sich, keine Hobbys zu haben. Jogging, Rosenzüchten, Schach oder Bergsteigen, Torten dekorieren, Modellflugzeuge. Nein. Hobbys bedeuteten Vorlieben, und Vorlieben mussten vermieden werden; sie schlossen bestimmte Menschen aus. Man hatte keine Vorlieben zu haben. Ihr Beruf verlangte, Interesse zu zeigen, aber keine Interessen zu haben. Und außerdem war Lesen nicht Tun. Sie war ein Mensch der Tat. Also ließ sie den Blick durch den büchergesäumten Lieferwagen schweifen und spielte auf Zeit. »Darf man denn einfach so ein
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