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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika
Autoren: Joachim Meyerhoff
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nicht da war.
    Der Schaffner kam. »Schönen guten Morgen. Die Fahrkarten bitte!« Ich gab ihm meine, die ich seit über einer Stunde wie eine Oma auf großer Fahrt in der Hand gehalten hatte. Unbewusst hatte ich sie zwischen den Fingern hin und her gerollt, tagträumend darauf herumgerubbelt. Und da ich freudig erregt war, waren meine Hände feucht und die Fahrkarte ganz labberig geworden. Der Schaffner nahm sie und sah sie sich an. »Da ist ja gar nichts zu erkennen. Das Datum ist ja verschwunden!« Unwillig hielt er sie sich näher vor die Augen, sah mich an, nickte abfällig und stempelte sie ab. Da die Langhaarige auch den Schaffner keines Blickes gewürdigt hatte, rief er laut: »Guten Morgen! Ihre Fahrkarte bitte!« Die dünne Gestalt tat einfach so, als wäre sie nicht da. »Hallo! Fahrkarte!« Die Frau räusperte sich, schluckte etwas herunter und sagte leise: »Was ist los?« »Ihre Fahrkarte! Zeigen Sie mir mal Ihre Fahrkarte!« Der Zug verlangsamte sein Tempo, der Schaffner sah aus dem Fenster und fragte: »Wo steigen Sie denn aus!« Unter den Haaren flüsterte es: »Hamburg.« »Ich komm gleich wieder, ja, und dann will ich Ihre Fahrkarte sehen! Verstanden?« Die Frau nickte.
    Kurz darauf hielten wir in Elmshorn. Durchs Fenster konnte ich den Schaffner auf dem Gleis herumstolzieren sehen, ein Gockel mit Kelle, und wie er zwei Mädchen verbot, ihre Fahrräder in den Zug zu hieven. Er zeigte immer wieder ans Ende des Bahnsteigs. Die Mädchen setzten sich auf die Räder. Sie hatten beide knappe Shorts an, Sandalen, gleich gemusterte Halstücher, und wollten Richtung Zugende radeln. Ich lehnte mich aus dem Fenster. Der Schaffner hielt sie an den Gepäckträgern fest und sagte nur »Absteigen!«. Eilig schoben die Mädchen davon. Ich sah ihnen nach. Da entdeckte ich weit hinten die ausgemergelte Frau auf dem Bahnsteig, die immer noch suchte, sich mechanisch über ihre Hosenbeine strich. Völlig überrascht drehte ich mich um. Ja, sie war weg. Wie hatte sie das so schnell, so geräuschlos geschafft? Sie schwankte. Die Mädchen mit den kurzen Shorts schoben links und rechts ihre Räder an ihr vorbei und verschwanden zwischen den Reisenden. Der Zug fuhr an, und der Schaffner kam zurück. »So, die Fahrkarte bi… Wo ist denn die Frau hin?« »Keine Ahnung«, antwortete ich. Er sah den Gang hinunter, zog missmutig meine Abteiltür zu und ging weiter.
    Ich nahm aus meiner Sporttasche mein Portemonnaie, das kein gewöhnliches Portemonnaie war. Es war ein echter Bullensack, ein gegerbter Bullensack mit einzelnen Härchen daran. Diesen Bullensack nahm ich aus meiner Sporttasche, in der noch ein warmer Pullover, eine Regenjacke und ein Buch lagen. Das Buch hatte mir mein Vater mitgegeben und gesagt: »Lies das mal, das könnte dir gefallen!« Ich hatte nicht die geringste Lust zu lesen, überhaupt fiel mir das Lesen schwer. Lesen machte mich nervös, vom Lesen bekam ich das große Kribbeln. Nach nur zehn Minuten Lesen fingen meine Muskeln an zu jucken und ich musste mich bewegen, schütteln, grimassieren und eine Runde rennen.
    Der Bullensack war prall gefüllt, münzschwer lag er satt in meiner Hand. Mit seiner roten Kordel zum Zuziehen sah er geradezu historisch aus, samten, wie frisch von einer jungfräulichen Baronesse geraubt. In zwanzig Minuten würde ich in Hamburg ankommen, in Hamburg-Altona, und dann würde ich eine S-Bahn zum Hauptbahnhof nehmen. Dort in der Nähe war um zwölf das Treffen der Austauschanwärter. Es hieß »Austausch«, wurde immer »Austausch« genannt, obwohl es gar nicht um einen »Austausch« ging. Niemand würde während meiner Abwesenheit in mein Zimmer einziehen. Kein amerikanischer Sohn würde mich ersetzen. Von »Austausch« konnte keine Rede sein. Wie lange würde dieses Auswahlgespräch dauern? Hoffentlich nicht länger als bis drei oder vier Uhr. Denn ich hatte ja noch etwas vor! Meinen Eltern hatte ich gesagt, es könnte spät werden, und sie gebeten, nicht auf mich zu warten.
    Der Zug fuhr langsamer. Vorm Fenster die ersten mehrstöckigen Wohnhäuser. So nah, dass ich hineinsehen konnte. Da eine Familie beim späten Frühstück. Da eine Frau, rauchend auf dem Balkon. Ich sah auch Fahrräder auf den Balkonen. Das ist eindeutig ein Zeichen dafür, dass Hamburg eine Großstadt ist, dachte ich. Wenn nicht einmal mehr ab- oder anschließen was nützte und man sich tagein, tagaus die Mühe machen musste, sein Fahrrad die Treppe hoch und auf den Balkon zu schleppen, spricht das
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