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Alle meine Wünsche (German Edition)

Alle meine Wünsche (German Edition)

Titel: Alle meine Wünsche (German Edition)
Autoren: Grégoire Delacourt
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mir, wie ich mir vergeben lassen kann. Hilf mir. Nadine hebt die Hand. Schon ist es vorbei. Die Kellnerin ist da. Two large coffees, two pieces of fruit cake; yes, madam , der Dieb versteht nichts, aber er liebt die Stimme seiner Tochter. Sie sehen sich an. Die Traurigkeit hat die Farbe von Nadines Augen geändert. Früher in Arras waren sie blau. Jetzt sind sie grau, das Grau des Regens, einer trocknenden Straße. Sie sieht ihren Vater an. Sie sucht in dem traurigen, unscharfen Gesicht nach dem, was seine Mutter geliebt hat. Sie versucht die Züge des italienischen Schauspielers wiederzufinden, das klare Lachen, die weißen Zähne. Sie erinnert sich an das schöne Gesicht, das sie abends vor dem Einschlafen küsste, an die Küsse ihres Vaters, die nach Vanille-, Cookie-, Pralinen-, Bananen-, Karamelleis schmeckten. Wird das, was man Schönes erlebt hat, hässlich, weil der Mensch, der dein Leben schöner machte, dich verraten hat? Wird das wunderbare Geschenk eines Kindes ein Grauen, weil das Kind zum Mörder geworden ist? Ich weiß nicht, Papa, sagt Nadine. Ich weiß nur, dass es Maman nicht gutgeht, dass die Welt für sie zusammengebrochen ist.
    Und als sie fünf Sekunden später ergänzt, für mich ist auch alles zusammengebrochen, weiß er, dass es vorbei ist.
    Er streckt seine Hand zum Gesicht seiner Tochter; er würde es gern berühren, ein letztes Mal streicheln, sich daran wärmen, aber seine eisige Hand erstarrt. Es ist ein seltsamer und trauriger Abschied. Schließlich senkt Nadine die Augen. Er versteht, dass sie ihn gehen lässt, ohne ihm die Kränkung anzutun, einen Feigling fliehen zu sehen. Das ist ihr Geschenk, weil er ihr gesagt hat, dass sie schön ist.
    Im Zug zurück erinnert er sich an die Worte seiner eigenen Mutter, als man ihr mitteilte, dass ihr Mann im Büro an einem Herzinfarkt gestorben sei. Er hat mich verlassen, dein Vater hat uns verlassen! Das Schwein, was für ein Schwein! Und später, nach der Beisetzung, als sie erfuhr, dass sein Herz explodiert war, während er es mit der Personalchefin, einer gierigen Geschiedenen, trieb, war sie verstummt. Endgültig. Sie hatte die Worte in sich geholt, ihren Mund verschlossen, und Jocelyn, noch ein Kind, hatte das Krebsgeschwür der Männerkrankheit im Herzen der Frauen gesehen.
    In Brüssel geht er in die Buchhandlung Tropismes in der Galerie des Princes. Er erinnert sich an das Buch, von dem sie manchmal aufschaute, um ihm zuzulächeln. Sie war schön, wenn sie las. Sie sah glücklich aus. Er verlangt Die Schöne des Herrn , wählt die großformatige Ausgabe, die, die sie las. Außerdem kauft er ein Wörterbuch. Dann verbringt er seine Tage mit Lesen. Er sucht die Erklärung für die Wörter, die er nicht versteht. Er will herausfinden, was sie zum Träumen brachte, was sie schön machte und sie manchmal zu ihm aufschauen ließ. Vielleicht sah sie Adrien Deume, und vielleicht liebte sie ihn eben dafür. Die Männer denken, dass sie liebenswert sind als Herren, dabei sind sie vielleicht einfach erschreckend. Er lauscht den Seufzern, den Selbstgesprächen der Schönen, die den Schleier der Liebe genommen hatte. Manchmal langweilt er sich bei den langen Monologen. Er fragt sich, warum es mehrere Seiten lang keine Satzzeichen gibt; dann liest er den Text laut vor, und im Hall des großen Salons verändert sich sein Atem, beginnt zu rasen; plötzlich spürt er Schwindel, wie im Herzen der Ekstase, etwas Weibliches, Anmutiges, und er versteht Jocelynes Glück.
    Aber das Ende ist grausam. In Marseille schlägt Solal Ariane, zwingt sie, mit ihrem früheren Liebhaber zu schlafen; die Schöne ist eine Kokotte ohne Reiz. Und dann der Sturz in Genf. Als Jocelyn das Buch zuklappt, fragt er sich, ob es seine Frau vielleicht in ihrer Vorstellung bestärkte, dass sie »Langeweile und Überdruss«, die die Liebenden im Roman verzehrten, überwunden hatte und dass sie auf ihre Art zu einer Liebe gelangt war, deren Perfektion nicht in den Nähten, den Frisuren und den Hüten, sondern im Vertrauen und im Frieden lag.
    Die Schöne des Herrn war vielleicht das Buch des Verlustes, und Jocelyne las es, um zu ermessen, was sie gerettet hatte.
    Jetzt will er nach Hause. Er ist voll von Worten für sie; Worte, die er nie ausgesprochen hat. Jetzt weiß er, was Symbiose bedeutet.
    Er hat Angst anzurufen. Er hat Angst vor seiner eigenen Stimme. Er hat Angst, dass sie nicht abnimmt. Er hat Angst vor dem Schweigen und dem Schluchzen. Er fragt sich, ob er nicht einfach nach
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