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Alle meine Wünsche (German Edition)

Alle meine Wünsche (German Edition)

Titel: Alle meine Wünsche (German Edition)
Autoren: Grégoire Delacourt
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den Spuren von Glutaraldehyd reinigen. Nur von denen meiner Schande, meines Schmerzes. Meiner verlorenen Illusionen.
    Ich bereite mich vor.
    In den ersten Wochen nach Jos Verschwinden war ich ins Centre Sainte-Geneviève zurückgegangen. Auch die Dominikanernonnen waren verschwunden. Aber die Pflegerinnen, die sie ersetzten, waren ebenso liebenswürdig.
    Als Jo mich verließ, hatte er mein Lachen, meine Freude, meinen Geschmack am Leben mitgenommen.
    Er hatte die Listen des Nötigen, meiner Wünsche und meiner Verrücktheiten zerrissen.
    Er hatte mir die Kleinigkeiten geraubt, die uns am Leben halten. Den Sparschäler, den man sich morgen bei Lidl kaufen wird. Das Calor-Bügeleisen nächste Woche bei Auchan. Einen kleinen Teppich für Nadines Zimmer in einem Monat im Schlussverkauf.
    Er hatte mir die Lust genommen, schön, frivol und eine gute Geliebte zu sein.
    Er hatte meine Erinnerung an uns ausgeschabt, ausgelöscht. Die schlichte Poesie unseres Lebens irreparabel zerstört. Ein Spaziergang Hand in Hand am Strand von Le Touquet. Unsere Hysterie, als Romain die ersten Schritte machte. Als Nadine zum ersten Mal Pipi sagte und dabei auf Papa zeigte. Ein Lachen, nachdem wir auf dem Camping du Sourire miteinander geschlafen hatten. Unsere Herzen, die in derselben Sekunde stehenblieben, als Izzie Stevens in der fünften Staffel von Grey’s Anatom y ihren verstorbenen Verlobten Denny Duquette vor sich sieht.
    Als er mich verließ, weil er mich bestohlen hatte, hatte Jo alles hinter sich zerstört. Alles beschmutzt. Ich hatte ihn geliebt. Und mir blieb nichts mehr.
    Die Pflegerinnen lehrten mich sanft, den Geschmack an den Dingen wiederzufinden. Wie man Kinder nach einer Hungersnot zu essen lehrt. Wie man mit siebzehn wieder zu leben lernt, wenn die tote Mutter vor aller Augen auf der Straße Pipi gemacht hat. Wie man lernt, sich wieder hübsch zu finden; sich anzulügen und sich zu vergeben. Sie löschten meine schwarzen Gedanken aus, beschwichtigten meine Alpträume. Sie lehrten mich, wieder tiefer zu atmen, in den Bauch, weit weg vom Herzen. Ich wollte sterben, ich wollte mir entfliehen. Ich wollte nichts mehr von dem, was mein Leben gewesen war. Ich hatte meine Waffen geprüft und zwei ausgewählt.
    Mich unter einen Zug werfen. Mir die Adern aufschneiden.
    Von einer Brücke springen, wenn ein Zug kommt. Das konnte nicht schiefgehen. Der Körper explodiert. Wird zerfetzt. Verteilt sich über Kilometer. Es gibt keinen Schmerz. Nur das Geräusch des Körpers, der durch die Luft saust, und das beängstigende Geräusch des Zuges; dann das Plock , wenn der eine auf den anderen trifft.
    Sich die Pulsadern aufschneiden. Weil es etwas Romantisches hat. Das Bad, die Kerzen, der Wein. Wie eine Liebeszeremonie. Wie die Bäder von Ariane Deume, die sich darauf vorbereitet, ihren Herrn zu empfangen. Weil der Schmerz der Klinge am Handgelenk klein und ästhetisch ist. Weil das Blut warm und tröstlich hervorsprudelt und rote Blumen zeichnet, die im Wasser aufblühen und Duftwirbel bilden. Weil man nicht richtig stirbt. Man schläft eher ein. Der Körper gleitet, das Gesicht taucht ein und versinkt im dichten, angenehmen flüssigroten Samt, in einem Bauch.
    Die Pflegerinnen im Centre lehrten mich, nur zu töten, was mich getötet hatte.

    D a ist ja unser Flüchtling.
    Er hat sich ganz klein gemacht, ist förmlich geschrumpft. Seine Stirn klebt am Fenster des dahinsausenden Zuges, dessen Geschwindigkeit impressionistische und virtuose Ausblicke zeichnet. Er wendet den anderen Reisenden den Rücken zu, wie ein schmollendes Kind; es ist kein Schmollen, sondern Verrat, ein Messerstich.
    Er hatte den Scheck gefunden. Er hatte gewartet, dass sie spricht. Deswegen war er mit ihr nach Le Touquet gefahren, umsonst. Da hatte er Jocelyne durchschaut, hatte ihr Bedürfnis nach Ruhe, ihre Zuneigung für das Dauerhafte geahnt. Er hatte das Geld genommen, weil sie es verbrennen würde. Oder spenden. Sabbernden Muskelkranken, fieberglänzenden Krebskindern. Das war mehr Geld, als er in sechshundert Jahren bei Häagen-Dazs verdienen würde. Jetzt schluchzt er, weil der Selbstekel keimt und beängstigend aufblüht. Seine Nachbarin fragt flüsternd: Ist alles in Ordnung, Monsieur? Er beruhigt sie mit einer matten Handbewegung. Das Zugfenster ist kalt an seiner Stirn. Er erinnert sich an Jocelynes sanfte, kühle Hand, als ihn das böse Fieber hinwegzuraffen drohte. Die schönen Bilder tauchen immer dann auf, wenn man sie ertränken möchte.
    Als der
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