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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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Eines der Tiere wurde hart getroffen, und die Kater stoben in Richtung Heide davon.
    Als der Stein das Tier traf, verdunkelte sich der Himmel, er wurde kupferrot, und die Sonne verschwand. Ein Windstoß fuhr kaum merklich durch die Zweige. Der Vikar zog sich in die Kirche zurück. Ihm mag durch den Kopf gegangen sein, dass es nicht klug ist, sich mit Gott anzulegen.
    Zur selben Zeit kam die alte Ohneruh die Schotterstraße entlang, die den Ort durchschnitt. Es war Markttag, und an den Ständen herrschte reges Treiben. Der eine verkaufte Kerzen, der nächste Stoffe, einer bot Almanache feil, und irgendwer spielte Drehorgel, an einem Stand gab es Wunderkräuter aus den Kolonien und an wieder einem anderen Mohn aus Holland. Da waren der Feuerschlucker und der Schornsteinfeger, der Scherenschleifer und der Trödler. Das ganze Dorf war da. Die Alte ging an allen vorbei, sie spürte, dass die Zeit der Entbindung gekommen war.
    Niemand wusste, dass sie schwanger war. Sie, eine arme Irre, die beaufsichtigt und betreut werden musste! Was würde man über den alten Gaston reden, der sie achtzehn Jahre zuvor bei sich aufgenommen hatte? Was sie da im Bauch trug, war ein Zeichen des Teufels.
    Die alte Ohneruh hatte ihren Namen verloren, als sie nach Geel gekommen war. Sie war vor mehr als vierzig Jahren in Paris geboren und schon als kleines Mädchen sonderbar. Sie machte ins Bett, man ertappte sie, als sie sich zwischen den Beinen berührte, und sie behauptete, dass sie mit den Engeln sprechen könne, und vor allem, dass die Engel ihr antworteten.
    All das beunruhigte ihre Familie, doch den Ärzten gelang es nicht, das Mädchen davon abzubringen, trotz der Heilkräuter und der gesungenen Litaneien, trotz der Tatsache, dass man ihr die Hände mit einem Strick zusammenband, wenn man sie zu Bett brachte. Nachdem man es auch mit eiskalten Bädern und glühenden Eisen versucht hatte, gab man die Hoffnung auf. Ein Pariser Arzt empfahl, sie in die Salpêtrière zu stecken. Da war sie noch nicht einmal zwölf Jahre alt, immer noch ein kleines Mädchen.
    Ihre Eltern, die mit Tabak handelten, gingen bankrott. Um ihren Gläubigern zu entkommen, flohen sie aus Frankreich nach Südamerika. Sie vergaßen die Kleine.
    Als man Ohneruh zehn Jahre später aus der Irrenanstalt entließ, wusste sie nicht, wohin, und so schickte man sie nach Geel. Sie war weder zu Verstand gekommen, noch hatte sie Frieden gefunden, und aus Angst, auch dort könnte jemand sie im Schlaf überraschen und ihr wieder etwas antun, schlief sie niemals, sie blieb immerfort wach, in einer Art Dämmerzustand.
    So kam es, dass sie von allen Ohneruh genannt wurde.
    Sie war einfach nur verrückt, Monsieur van Gogh. Doch ich bin mir sicher, dass sie das kleine Wesen wollte, das sie im Schoß trug, sie, die zu alt zum Gebären war. Hinter ihrem erloschenen Blick, den abgerissenen Sätzen und ihrer wilden Teufelsmähne glomm noch so viel Seele, wie sie brauchte, um zu wissen, was es mit der Liebe und mit dem Leben, das in ihr wuchs, auf sich hatte.
    Kein Mensch hat je den Namen des Vaters erfahren.
    Er war ein gemeiner Kerl, der sich schämte, eine arme Monomanin geschwängert zu haben, weshalb er sie zu den Zigeunerinnen brachte, damit sie abtrieb. Ohneruh erinnerte sich noch genau daran. An den Stich einer großen, glühenden Nadel, die ihr zwischen die Beine gerammt wurde und eine ganze Drehung beschrieb, um ihr die Gebärmutter auszukratzen, ohne jedoch zu finden, was sie suchte, weil der Fötus sich im Bauch festgeklammert hatte wie ein Schiffbrüchiger an ein Floß. Auf unergründliche Weise wurde dieses Geschöpf verschont, und es gehörte nur ihr.
    Das ist das Bild, Monsieur van Gogh.
    Ein ganzes Dorf, das anderswohin schaut, und sie, die mittendurch geht.
    Sie spürte, dass sie sich von ihrer Last befreien musste, nach nur sieben Monaten Schwangerschaft, und so lockerte sie den viel zu engen Kittel.
    Während nun Windstöße die Planen der Karren blähten, die Flamme des Feuerschluckers bedrohten, Staub aufwirbelten und die Mähnen der Pferde zerzausten, kauerte sich die alte Ohneruh auf den Boden und begann zu schreien.
    Niemand hörte sie, niemand kam zu ihr, niemand begriff, dass sie im Sterben lag. Alle brachten ihr Hab und Gut in Sicherheit, räumten hastig zusammen und zogen sich in ihre Häuser zurück. Die Böen waren heftig und bedrohlich geworden. Sie ließen die Fensterscheiben erzittern, pfiffen durch die Äste und heulten auf den Felsen. Der Sturm rumorte
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