Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
als eine schöne Frau vor, so wie andere Mütter, wie die, die ich auf dem Markt sah, wenn ich doch einmal bis ins Dorf ging, und ich träumte von ihrer Umarmung, die, so wusste ich, anders gewesen wäre als alle Umarmungen, die ich bisher in meinem Leben gespürt hatte.
    Eigentlich gibt es doch niemanden, der keine Geschichte hat. Meinen Sie nicht auch? Jeder erfährt die Liebe, die Nacht, die Stille, und jeder erfährt auch die Unzuverlässigkeit der wünschenswerten guten oder schönen Dinge.
    Ich stehe auf, gehe zum Fenster, um etwas frische Luft zu schnappen, dann setze ich mich wieder an den Tisch. Vom Fenster aus sieht man Pinien, die Berge in der Ferne und eine sehr hohe Zypresse. Die Zypresse gefällt mir, sie leistet mir Gesellschaft, und ein bisschen unheimlich ist sie mir auch. Sie ist schön, und ich mag ihr Holz und ihren Wuchs.

    Der Winter 1877 war schrecklich. Eisiger Wind fegte über die Felder, schon im September fiel der erste Schnee, alle bekamen Fieber, die Kinder starben, kaum dass sie geboren waren, und die Mütter starben bei der Geburt. Eines Abends holte ich Wasser vom Brunnen und spülte den Schmutz der Tiere fort. Das Wasser gefror auf der Stelle. Meine geröteten Finger klebten am Blecheimer fest. Da spürte ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. Es war Icarus, er stammelte, Madame De Goos sei tot, sie habe Giftpilze gegessen.
    Meine Erinnerungen an Madame De Goos sind nur schwach. Ich mochte sie gern, doch es ist sehr lange her. Außerdem möchte ich nicht mehr daran denken, denn ihr Tod hat mich erschreckt: Ich entdeckte sie, als ich durch die offene Tür spähte. Man hatte mir verboten, das Zimmer zu betreten, doch meine Neugier war stärker. Sie lag zwar ganz friedlich da, ihr Gesicht aber war gelbgrün.
    Auch der Tod hat seine Farbe, dachte ich. Alles hat seine Farbe.
    Wenige Monate später erkrankte Monsieur De Goos. Zunächst überzog sich sein Gesicht mit roten Flecken, dann blähte sich sein Oberkörper auf wie der eines Stiers, und am Ende setzte seine Atmung wieder und wieder aus. Juckreiz und Krämpfe quälten ihn. Seine Haut schien abzublättern, als ob er sich häutete. Ich war es, die ihn pflegte, die bei einem Anfall Doktor Shepper holte, die ihm Tee und Salben bereitete. Sein Zustand verschlechterte sich zunehmend. Icarus hatte sich angewöhnt, zu Fuß zum Bergwerk zu gehen, damit ich das Veloziped nehmen konnte, falls nötig.
    Warum tut es immer so weh, sich zu erinnern?
    Monsieur De Goos in diesem Zustand zu sehen war herzzerreißend. Wenn er delirierte, erkannte er mich nicht mehr, beschimpfte mich und schrie, ich solle verschwinden. Ich sah, wie er verging, Stunde um Stunde, und betete zu Gott, er möge ihn rasch zu sich nehmen.
    Eines Tages hörte ich ihn laut wehklagen, die Sonne hinter den Wolken war eine weiß-violette Scheibe, ich erschauerte. Ich wusste, dass es nun zu Ende ging, hastete ins obere Stockwerk, riss das Fenster auf, weil ein unangenehmer, beißender Geruch in der Luft lag, und ließ etwas Licht herein. Ich sah diesen ausgemergelten Körper und dachte unwillkürlich, dass ich wohl zum letzten Mal Monsieur De Goos’ Stimme hörte.
    »Hol Icarus«, hauchte er.
    »Ich hole den Doktor.«
    »Nein, nein.«
    »Den Priester?«
    »Icarus ...«
    Ich nahm einen Beutel mit Silbermünzen, versteckte ihn unter meinem Kleid, schwang mich aufs Veloziped und radelte, so schnell ich konnte, zur Kohlengrube.
    Im Wachhäuschen saß ein dicker Mann hinter einem kleinen Tisch. »Ich muss zu Icarus Broot, ein Notfall«, sagte ich.
    Ich kann mich noch genau an seine Antwort erinnern, Monsieur van Gogh, an seine träge Handbewegung und an seine gelangweilte Stimme: »Die Schicht endet in einer Stunde, Kleine. Vorher ist es nicht gestattet ...«
    »Ein Mann liegt im Sterben. Würden Sie ...«
    »Was geht mich das an?«
    »Geht Sie dann wenigstens das hier etwas an?« Mit diesen Worten schüttete ich die Münzen vor ihm auf den Tisch. Der Dicke hatte wohl noch nie so viel Geld auf einem Haufen gesehen, und seine Augen leuchteten auf. »Ich habe noch mehr davon«, fügte ich hinzu. »Das bekommen Sie nach meiner Rückkehr.«
    »Warte mal, du Rotznase«, sagte er, drehte sich um, nahm ein gelbes Blatt Papier aus einem Schränkchen und schrieb etwas darauf. »Du musst den Mann unter Tage abholen, seinen Tageslohn behalten wir ein.«
    Er stand auf, winkte mir, ihm zu folgen, ging zum Grubeneingang und zündete sich eine Zigarette an. Mit einer Winde holte er einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher