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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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und darüber, wie schlecht sie von den Grubenbesitzern bezahlt wurden.
    Ich begriff nicht viel davon und war nicht gern dort. Die Kohlengrube machte mir Angst. Diese unterirdische Welt, die niemand sehen konnte, war mir unheimlich. Auch die Landschaft ringsherum ließ mich schaudern, die ärmlichen Hütten, umgeben von toten, schwarz verrußten Bäumen und Brombeerhecken, Mist und Abfällen, Kohleresten und Asche.
    Icarus zeigte mir ein Wachhäuschen und davor einen Krater, dessen Ränder festgetreten und ohne einen Grashalm waren. »Bergarbeiter sind wie Seeleute an Land«, sagte er. »Sie sehnen sich nach der Grube, trotz aller Gefahren und Anstrengungen. Kaum zu glauben, doch so ist es.«
    »Und wie sind sie?«
    »Wie alle Bewohner des Kempenlandes. Sie können weder lesen noch schreiben, gleichen das aber mit anderen Vorzügen aus. Sie sind flink und unerschrocken. Klein von Gestalt, mit melancholischen Augen. Sie sind nervös, doch nicht schwach. Empfindlich, könnte man sagen.«
    »Und warum fahren sie dort hinunter?«
    »Für ihren Lebensunterhalt, eine andere Arbeit gibt es hier für sie nicht. Und um zu sterben. Es kommt zu Wassereinbrüchen, Erdrutschen, Erstickungstoden.«
    Ich dachte bei mir, dass ich um nichts auf der Welt in die Grube hinunterfahren würde und dass es ziemlich dumm von Icarus war, es aus freien Stücken zu tun. Ich fürchtete, ihm könnte etwas zustoßen, doch das sagte ich ihm nicht. Icarus gefiel mir wirklich.
    Es fehlte mir an nichts, Monsieur van Gogh.
    Ich lernte kochen, sticken, spinnen, rechnen und beten. Die De Goos’ erzogen mich zu einer Hausfrau, und sie behandelten mich nicht wie ein Findelkind. Sie hofften, dass ich eines Tages heiraten könnte. Auch bei den Männerarbeiten stellte ich mich geschickt an. Ich hackte Holz, machte mit Steinen Feuer, beschlug die Pferde, kaute heimlich Tabak und dann Minzblätter, um den Geruch zu vertreiben, ich wusste, wie man beim Kartenspielen mogelt, und es machte mir nichts aus, den verletzten Fuß einer Kuh zu nähen.
    Wenn ich von niemandem gefunden werden wollte, versteckte ich mich in einer kleinen Höhle inmitten der Felder. Ich verbrachte viel Zeit allein, flocht Ähren zusammen oder warf Steinchen so weit es ging.
    Mir gefiel dieses Leben.
    Auch Sie lieben die Einsamkeit, Monsieur van Gogh. Das haben Sie einmal in einem Brief geschrieben: Geldnot und Elend haben ihren Sinn, und tiefe Mutlosigkeit hat auch ihren Sinn, und zuweilen ist es ein gutes Mittel, um sich die nötige Einsamkeit zu sichern, damit man sich in irgendeine Sache, die einen beschäftigt, noch mehr vertiefen kann.
    Wir haben immer viel geredet, Monsieur van Gogh. Auch wenn Sie nicht viel mit mir gesprochen haben, so habe ich doch oft mit Ihren Worten gesprochen.

    Gleich nach dem Mittagessen ging ich zu Gaston.
    Ich lief über die Felder, sprang über einen kaputten Zaun und gelangte in den kleinen Garten, in dem Gaston das Meer lehrte. An windigen Tagen versammelte er die Kinder des Dorfes um sich, ließ sie sich auf die Steine setzen und zeigte dann auf die vom Mistral niedergemähten Felder: »So ungefähr ist das Meer, man weiß nie, wo es anfängt und wo es aufhört.« Sobald alle aufmerksam waren, erzählte er von Wellen und von Ebbe und Flut, vom Seehandel und von Schlachten, von Flaggen und von Piraten. Die Kinder waren begeistert und wollten, dass er sie mit nach Antwerpen nahm, zum richtigen Meer, dem blauen und nicht dem gelben, zum Meer mit Ferngläsern und Schaluppen, nicht mit Bäumen und Heugarben.
    Auch ich interessierte mich für den Hafen und die Schiffe. Doch ich hatte noch ein anderes Meer in mir, ein großes, leeres Meer ohne Wasser. Nach dem Unterricht blieb ich oft noch ein wenig bei Gaston, um mit dem Seemann zu plaudern, ich fragte ihn nach meiner Mutter, wer sie gewesen war und was ihr gefallen hatte.
    Mag sein, dass Gaston Seemannsgarn spann, aber das war mir egal. Ich wusste, dass meine Mutter nur eine Verrückte war, und er gab ihr eine Geschichte. Mir war das recht. Er erzählte, die alte Ohneruh sei versessen auf Honig gewesen und habe ständig einen Kinderreim über Geel aufgesagt – Gelb, ja Gelb, ich weiß es nicht –, man habe ihr das nicht ausreden können, und sie habe sich gern eine Margerite ins Haar gesteckt. »Fast immer zog sie ein mürrisches Gesicht, doch was mich stets beeindruckte, was mich anrührte, war, dass sie beim Pfeifen die Augen schloss. Wenn sie das tat, war sie wirklich ganz bei sich.« Ich stellte sie mir
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