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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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der Dorfbewohner.
    Er verstand zwar nicht genau, was mit mir war, doch etwas spürte er, etwas, das mich zu etwas Besonderem machte. Doch eigentlich ist gar nichts Besonderes an mir. Ich bin nur eines der unzähligen Wunder, die in Geel nicht geschehen sind.

    Genau so war es, Monsieur van Gogh.
    Auf diese Weise begann mein Leben, mitten im Sturm. Eine schöne Art, zur Welt zu kommen, nicht wahr? Ich wuchs in der unfruchtbaren Natur des Kempenlandes heran. Eines Landstrichs, der nichts hergibt und wo die Schwalben nur selten Station machen.
    Doch die Farben gefielen mir. Ich muss oft an sie denken. An das Orangerot der Füchse, das Weiß-Gelb des schaumigen Bieres, das Rot der Tulpen und an die durchsichtigen Raupen, aus denen bunte Schmetterlinge werden. Als kleines Mädchen fragte ich mich oft: Wie kann denn ein brauner Baumstamm einen gelben Apfel hervorbringen? Wie kann ein grüner Strauch blaue Beeren tragen?
    Wozu gibt es so viele Farben?
    Ich habe Sehnsucht nach jener Zeit.
    Ich spüre noch immer das Heu in meinem Rücken, an das ich mich lehnte, am Abend, wenn die Kühe nach Hause kamen. Der Himmel verfärbte sich rötlich, und ich wartete auf die Sterne. In den Fingern hatte ich Bohnen, die enthülst werden mussten, oder Kartoffeln, deren schmutzige Schale ich mit einer Drahtbürste schrubbte. Kochen gefiel mir.
    Mich zu erinnern fällt mir schwer.
    Doch ich war dieses Mädchen.
    Ich war glücklich.

    Madame De Goos war dick, launisch und berühmt für ihre Hirseplätzchen. Monsieur De Goos hielt sich, wenn er nicht auf dem Feld war, um den Bauern Anweisungen zu geben, im Stall auf, um die Kälber zu füttern, oder im Büro, um Abrechnungen zu machen.
    Und da war Icarus, der jeden Morgen vor Tagesanbruch aufstand und sich auf sein wackliges Gefährt schwang, auf dieses Wunder der Technik, um nach Osten zur Kohlengrube zu fahren. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er, groß und dünn, im Morgennebel aufbrach. Nicht gerade ein schöner Mann, doch man konnte ihn auch nicht übersehen. Er war klug und liebenswürdig, mutig und melancholisch. Er war einer jener Männer, die den Eindruck vermitteln, einen Sinn in dem zu finden, was sie tun.
    Wenn Icarus am frühen Nachmittag nach Hause kam, war er ganz für mich da. Er ließ mich auf Ästen herumklettern, kämmte mir das Haar und steckte es mir unter die Haube, spielte Akkordeon oder sagte mir Gedichte auf. Er lehrte mich lesen und schreiben. Erzählte mir von Shakespeare, Hugo, Zola und von den Werken, die sie geschrieben hatten. »Wenn dich ein Buch beeindruckt, dann deshalb, weil es mit dem Herzen geschrieben ist, mit Demut und Schlichtheit«, pflegte er zu sagen. Ich hörte ihm gern zu. Wir verbrachten endlos lange, wunderbare Nachmittage zusammen. Ich lernte die Namen der Pflanzen, der Tiere, der Winde, und er ließ mich herumtollen. Icarus erzählte mir auch die Geschichte von Geel und die Legende von der heiligen Dymphna, erzählte mir, welche Bewandtnis es mit der Gastfreundschaft von Geels Einwohnern hatte und welche Vorschriften den Aufenthalt seiner Gäste regelten. Er sagte auch, dass es schwierig sei, Fremden von unserem Dorf zu erzählen. Niemand könne glauben, dass es einen solchen Ort gibt, wo die Verrückten in der Gemeinschaft aller leben.
    Einmal halfen wir den Bauern, Kohle ins Haus zu bringen, und als wir allein auf der schmalen Allee waren, fragte ich ihn:
    »In welchem Alter heiratet man eigentlich?«
    »Das kommt darauf an«, antwortete er ausweichend. Er schien sich zu amüsieren.
    »Worauf denn?«, bohrte ich weiter.
    »Darauf, ob man den richtigen Menschen gefunden hat.«
    »Aber muss das denn nicht die Familie entscheiden?«
    »Früher war das so. Heute kommt man auch ohne aus.«
    »Und hast du noch nicht die Richtige gefunden?«, fragte ich etwas ängstlich.
    »Nein, noch nicht.«
    Ich war erleichtert. »Und wie sollte sie sein?«
    »Wenn ich sie gefunden habe, sage ich dir, wie sie ist«, sagte er lächelnd. Er hatte gemerkt, was los war.
    »Wird sie Ähnlichkeit mit mir haben?«
    Nun schien Icarus verlegen zu sein. Er zog mich nicht auf, wie er es sonst immer tat.
    Später nahm er mich manchmal auf seinem Veloziped mit, wenn er nicht zu müde war. Wir fuhren die menschenleeren Wege entlang. Wenn wir zum Bergwerk kamen, sagte er jedes Mal, er habe es nicht nötig, dort zu arbeiten, er habe an der Universität studiert und könnte Chemie unterrichten. Doch er schreibe an einem Buch über die Grubenarbeiter, über ihre Arbeitsbedingungen
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