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Alle Farben der Welt - Roman

Alle Farben der Welt - Roman

Titel: Alle Farben der Welt - Roman
Autoren: Deutsche Verlags-Anstalt
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über die Maßen, während die Alte ihr Kind zur Welt brachte. Alles vermischte sich, verwirbelte sich, Samen und Erde wurden durch die Luft geschleudert, alles war verdreht, so wie in Geel immer alles verdreht gewesen war, so wie sich auch im Bauch der Verrückten alles verdrehte. Das kleine Geschöpf strampelte, kämpfte, wollte heraus, wollte zur Welt.
    Die Fruchtblase platzte. Ohneruh begann zu pressen, presste mit weit geöffneten Beinen, und sie dachte, dass dies nun das Letzte war, was sie auf Erden tun würde, sie biss die Zähne zusammen, und ein kleines Etwas glitt heraus wie ein Fisch, es rutschte in den Rock der Mutter und fing an zu schreien.
    Die Alte betrachtete das Mädchen.
    Der Wind hatte sich gelegt.
    Dieses Mädchen war ich.
    Vikar Torsten war es, der mich fand. Er erfasste sofort, dass er für meine Mutter nichts mehr tun konnte, und rief umgehend Lisbeth, die Hebamme, herbei, damit sie mich abnabelte, bevor auch ich starb. Dann nahm er mich hoch, wischte mir mit seinem Taschentuch das Gesicht ab und schaute zwischen meine Beine. Er sah einen rosa Spalt, der keinen Zweifel ließ: ein Mädchen.
    Er war erschüttert, weil Ohneruh starb, hoffte jedoch zugleich, meine Geburt möge das gute Omen sein, das er von Gott ersehnt hatte.
    Meine Mutter wurde gleich hinter der Kirche, unweit des weißen Grabmals der heiligen Dymphna beigesetzt. Ich habe Ihnen die Stelle gezeigt. Es ist ein schlichter Ort, ein Stückchen Erde mit namenlosen Kreuzen, ärmlichen Holzkreuzen, ein Bauernfriedhof.
    Einige Tage später fuhr Vikar Torsten zum Standesamt von Antwerpen, um meine Geburt zu melden, und Gaston fuhr mit, um den Tod nach großem Blutverlust der Französin Hélène Bruvière anzuzeigen, der schwachsinnigen Monomanin , die am 15. Dezember 1846 nach Geel gekommen und Gaston als ihrem nourricier , ihrem Vormund, anvertraut worden war.
    Ich wurde im Angesicht Gottes auf den Namen Teresa Ohneruh getauft. Das Leben in Geel ging weiter, als wäre nichts geschehen.

    So erzählt man es sich, Monsieur van Gogh, und es heißt auch, der Vikar und Gaston hätten befürchtet, man könnte mich in ein Waisenhaus stecken. Daher gingen sie schnurstracks ins Rathaus zu Doktor Shepper, dem königlichen Inspektor von Geel. Er war eigentlich Arzt, hatte aber darüber hinaus in unserem sonderbaren Dorf auch amtliche Befugnisse.
    Er zeigte sich erstaunt über dieses unverhoffte Ereignis und stellte einige Fragen zur Schwangerschaft. Torsten schenkte ihm reinen Wein ein, und Doktor Shepper beschränkte sich darauf, mit einer raschen Begutachtung festzustellen, was im Dorf ohnehin schon alle wussten, dass Gaston nämlich seit einem Haiangriff vor den Komoren keine Frau mehr schwängern konnte.
    In meinem Interesse verfolgte Shepper die Sache nicht weiter und verzichtete darauf, sie im Melderegister zu verzeichnen.
    Natürlich hatte der Doktor auch Geels Interesse im Auge. Seine Meldungen würde man auch in Brüssel lesen, und die Erwähnung einer geschwängerten Verrückten hätte möglicherweise verhindert, dass unser Dorf auch weiterhin das sein konnte, was es seit undenklichen Zeiten war, die sonderbare Ausnahme, die so mancher für unmöglich hielt.
    Jedenfalls rechnete der Inspektor nicht damit, dass der Skandal von langer Dauer sein würde. Ich war eine Frühgeburt und hatte ein so zartes Körperchen, dass man sich kaum traute, mich auf den Arm zu nehmen, und ein harter Winter stand vor der Tür. Der gute Shepper glaubte nicht, dass ich das kommende Jahr erleben würde. Doch Torsten zündete jeden Abend bei der heiligen Dymphna eine Kerze für mich an.
    So bin ich, allen Erwartungen zum Trotz, immer noch da, Monsieur van Gogh.
    Ich hatte damals schon dunkles Haar und runde Wangen. Ich schlief tief und fest und hatte wahrscheinlich herrliche Träume, denn ich lächelte immer.
    Im März, sechs Monate nach meiner Geburt, wollte mich der Inspektor gründlich untersuchen. Er wusch mich, hörte mich ab, öffnete meinen Mund, schaute sich meine Zunge an, tastete meine Rippen ab, untersuchte meine Ohren. Und sah, dass ich gesund war.
    Er entschied, dass ich im Pfarrhaus abgestillt werden und unverzüglich Wilhelm De Goos übergeben werden sollte, einem Gutsverwalter, der mit seiner Frau außerhalb des Ortes lebte und auch einen Grubenarbeiter namens Icarus Broot beherbergte, den Besitzer des einzigen Velozipeds von Geel.
    Shepper war es lieber, dass ich dort aufwuchs, geschützt vor den neugierigen Blicken und dem naiven Aberglauben
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