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Alle Familien sind verkorkst

Alle Familien sind verkorkst

Titel: Alle Familien sind verkorkst
Autoren: Douglas Coupland
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Brief steckt nämlich immer noch hier in meiner Tasche - in seinem kleinen Tütchen.« Sie holte ihn hervor und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. »Hier - nimm du ihn.« Sie ließ das Dokument in Wades Hemdtasche gleiten.
    »Mom, was hast du Dad und Nickie im Haus erzählt?«
    »Was meinst du?«
    »Du hast etwas zu ihnen gesagt - und da haben sie sich verändert. Sie wurden ... jünger. Dad sah sogar entspannt aus. Was hast du ihnen gesagt? Du weißt etwas.«
    »Ja. Das stimmt.«
    »Was weißt du? Sag's mir.«
    Janet fragte sich, wie sie es Wade erklären sollte. Bei Ted und Nickie war es so einfach gewesen. Sie war sich vorgekommen wie ein Mafiaboss, der mit einem Atemzug Segen spendet, der ein ganzes Leben verändert, und mit dem nächsten nach einer Karaffe Roten verlangt. Aber es Wade beizubringen war irgendwie komplizierter, und darauf war sie nicht vorbereitet. »Wade, nimm mal an, du hattest nie AIDS. Stell dir vor, du warst gar nicht krank. Du hast erfahren, dass dein positives Testergebnis ebenso falsch war wie das von Beth.«
    »Mom, du siehst doch, wie es um mich steht. Mit unseren offenen Wunden in diesem Sumpf zu sitzen ist vermutlich unser beider Tod.«
    »Beantworte meine Frage, Wade. Stell dir das mal vor.«
    »Was ich dann tun würde?«
    »Ja.«
    Wade überlegte eine Weile. »Ich hätte keine Ausreden mehr, nicht wahr?« Janet blieb stumm. »Ich würde -« Wade stockte erneut.
    Janet dachte selbst über diese Frage nach. Sie hatte keine ruhige Minute gehabt, seit Cissy im Restaurant ihr Leben verändert hatte. Was wäre der Unterschied, ob sie mit fünfundsechzig oder mit fünfundsiebzig sterben würde? - diese zehn Jahre mehr ... was mochten sie wohl bedeuten? Oder mit fünfundachtzig - zwanzig Jahre mehr. Sie hatte diese Jahre so sehr herbeigesehnt, hatte um ihren Verlust getrauert, doch jetzt hatte sie sie wieder, und sie war nicht in der Lage, zu entschlüsseln, was das für sie bedeutete. Tja, was ist eigentlich der Sinn meiner ersten fünfundsechzig Jahre gewesen? Vielleicht ist der Wunsch zu leben und das Geschenk des Lebens alles, was zählt. Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, wie viele Haikus ich jetzt noch schreiben kann. Dass ich Cello spielen lernen oder für wohltätige Zwecke schuften kann. Aber was ist dann noch von Bedeutung?
    Sie dachte über ihr Leben nach und darüber, wie verloren sie sich die meiste Zeit gefühlt hatte. Sie dachte daran, dass all die Regeln, die man ihr beigebracht hatte, unweigerlich im Widerspruch zum wirklichen Leben standen. Wie konnte ein Mensch so unrettbar verloren sein und dennoch weiter leben? Ihre Zeit mit der Krankheit hatte zu ihrer Überraschung dazu geführt, dass sie nicht mehr ganz so verloren fühlte. Daran war nicht zu rütteln. Die Krankheit hatte sie gezwungen, an Orten nach Wissen und Trost zu suchen, an die sie sich sonst nicht mal im Traum begeben hätte. Sie hatte Janet gezwungen, Mitmenschen kennen zu lernen und sich mit ihnen anzufreunden, die sonst Schatten geblieben wären, die neben ihr im Auto an roten Ampeln warteten. Doch vielleicht würde sie jetzt weitermachen, Gedanken, auf die sie sonst niemals gekommen wäre, an einst verbotenen Orten zu suchen - nicht gezwungenermaßen, sondern aus freien Stücken - weil sich das als der einzig wahre Ausweg aus ihrem fragilen, unlebbaren Leben-vor-dem-Tod erwiesen hatte. Jetzt konnte sie in jedem, den sie traf, die Seele erkennen - im Supermarkt, beim Gassigehen mit dem Hund, in der Bücherei - all diese Seelen, helle Lichter, die sie vielleicht blenden würden ...
    »Ich schätze -«, sagte Wade.
    »Ja?«
    »Nun ja, betrachte meine Lage mal so: Im Moment bin ich praktisch tot. Kein Widerspruch, bitte, mit mir geht es unwiderruflich zu Ende. Das Einzige, was diese Protease-Inhibitoren und Reverse-Transcriptase-Hemmer geleistet haben, war, mir ein zusätzliches Jahr mit Beth zu verschaffen - und sie gaben mir die Zeit, hierher zu kommen und beim Shuttle-Start bei meiner Familie zu sein.« Er wandte seinen Kopf zu seiner Mutter. »Es war zum Brüllen, was?«
    »Und wie.«
    »Na also.« Er drehte sich um und betrachtete die gelben Hotellichter in der Ferne. »Aber wenn ich erführe, dass ich nicht sterben werde, glaube ich nicht, dass ich weiterhin Wade sein könnte.«
    »Wie das?«
    »Ich müsste noch mal ganz von vorne anfangen. Ich wäre wie ein Wissenschaftler in einem Comic, der bei einem Unfall schrecklich entstellt wird, dafür jedoch eine übernatürliche Fähigkeit verliehen
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