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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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hat.«
    »So will es scheinen«, räumte ich ein. »Auf den ersten Blick.«
    »Und auf den zehnten und zwanzigsten Blick auch, das versichere ich Ihnen. Sie können sagen, was Sie wollen, Mr. Cavendish, das hier ist ein außerordentlicher historischer Fund. Ich möchte meinen, er könnte zum Ausgangspunkt einer famosen wissenschaftlichen Abhandlung werden. Wodurch die Karriere ihres Verfassers wieder Fahrt aufnehmen würde.«
    Er hielt kurz inne, um dann unverbindlicher fortzufahren.
    »Leider können weder Sie noch ich mit einer bloßen Kopie irgendwas in Schwung bringen. So etwas fabriziert jeder Neunjährige auf seinem Computer. Nein, um unsere gemeinsamen Zwecke zu befördern, benötigen wir das Original.«
    Ich starrte auf das zerknickte Blatt. Die Wörter traten abermals hervor: unsrer traulichen Schule zu gedencken, woselbst wir uns so frohgemuth versammleten  …
    Und dann fiel mir wieder Alonzos letzte Nachricht an mich ein.
    »Darf ich das behalten?«, fragte ich matt.
    »Selbstverständlich.«
    Es wanderte sofort in meine Jackentasche. Ich tätschelte es zweimal; fast glaubte ich, es gurren zu hören.
    »Nun, Mr. Styles, eins kann ich Ihnen versprechen. Wie Sie wissen, werde ich in den nächsten Tagen Alonzos Papiere sichten. Sollte sich Ihr Dokument darunter befinden – nun, sagen wir einfach, ich werde ein wachsames Auge darauf haben. Wie finden Sie das?«
    » Wachsames Auge «, sagte er sinnend. »Ein hübscher Ausdruck. Klingt mir allerdings nicht allzu engagiert.«
    »Ich könnte mich auch stärker engagieren«, sagte ich. »Wenn die Situation es erfordert.«
    Kurze Pause. Dann ein Lachen, das an die Tudor-Balken sprang.
    »Wenn der Anreiz stimmt – wollen Sie das damit sagen, Mr. Cavendish? Ich hätte gedacht, ein Wiedereintritt in die akademische Welt wäre Anreiz genug.«
    »Wer sagt, dass ich wieder dahin zurück will?«
    Er grinste mich mit offener Bewunderung an. »Auch gut. Was die Wissenschaft verliert, gewinnt der Kommerz. Also schön, ich biete Ihnen einen Vorschuss von zehntausend Dollar. Weitere neunzigtausend Dollar, wenn Sie mir das Dokument zurückbringen. Oder wären Ihnen beim derzeitigen Wechselkurs Euro lieber?«
    Aber kaum hatte ich diese Zahlen gehört, war ich nicht mehr fähig, an irgendwelche Wechselkurse zu denken – oder auch nur an Walter Ralegh. Vollkommen ungeordnet dachte ich vielmehr an den ziemlich barschen Brief vom Anwalt meines Vermieters, meinen 95er Toyota Corolla, der einen neuen Keilriemen benötigte und mir genau genommen gar nicht gehörte, und an das Handschuhfach besagten Autos, zur Zeit vollgestopft mit Mahnschreiben der Bank. (Die ich in gewissen Stimmungen statt Kleenex benutze.)
    »Dollar ist in Ordnung«, sagte ich.
    Er beugte sich zu mir herüber.
    »Und Sie haben bestimmt nichts Wichtigeres vor, das Ihre Aufmerksamkeit verlangt?«
    Hier bekam ich zum ersten Mal Bernard Styles' Grausamkeit zu spüren.
    »Nichts, was sich nicht aufschieben ließe«, sagte ich. Wieder ein Fingerschnipsen, und Halldor zückte ein in Leder gebundenes Scheckbuch und einen Cross-Füllfederhalter. Je größer du bist, sagt man, desto kleiner deine Unterschrift. Die des alten Mannes jedenfalls bestand nur aus zwei japanischen Schnörkeln. Und schon lag der Scheck in meiner Hand.
    »Chemical Bank«, erklärte er, während er aufstand. »Den können Sie sofort einlösen. Den Rest erhalten Sie, wie gesagt, wenn Sie das Dokument abliefern. Persönlich.«
    »Wo wohnen Sie so lange?«
    »Bei Freunden«, sagte er schlicht. »Noch etwa eine Woche. Ich nehme an, das gibt Ihnen hinreichend Zeit, den Auftrag zu erledigen.«
    »Wie kann ich Sie erreichen?«
    Er klemmte sich seinen Schirm unter den Arm. »Ich erreiche Sie . Und jetzt muss ich leider gehen. Man hat mir eine Privatführung durch das Archiv versprochen. Wenn es Ihnen keine allzu große Mühe macht, richten Sie Alonzos Familie mein tiefstes Mitgefühl aus. Was für ein Verlust für die Welt. Und jetzt …« Er richtete sich kerzengerade auf. »Auf die Gefahr hin, geschmacklos zu erscheinen, Mr. Cavendish, es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen ins Geschäft zu kommen.«
    »Ganz meinerseits«, sagte ich.
    Kein abschließender Handschlag. Er besiegelte unseren Pakt mit einem Nicken und einem fast verschämten Lächeln. Erst, als er schon losgegangen war, kam ihm noch ein Gedanke.
    »Wissen Sie, dass ich einige meiner besten Geschäfte bei Beerdigungen gemacht habe? Dem Tod entspringt Leben, sage ich immer.«

 

    3
    M eine
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