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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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Wasserspeiern.
    »Henry.«
    Alonzos Stimme drang aus weiter Ferne zu mir.
    »Was?«
    »Gründen wir unsere eigene Schule«, sagte er.
    »Wir sind schon in einer.«
    Nie zuvor und nie danach habe ich ihn so grinsen sehen. Sein Mund ging auf wie ein Schleusentor, und ein völlig neuer Alonzo strömte hervor.
    »Eine Schule der Nacht «, sagte er. »Unsere eigene. Ans Werk.«

 

    4
    A m Tag nach der Gedenkfeier für Alonzo zahlte ich Bernard Styles' Scheck auf mein leergefegtes Konto ein. Am nächsten Tag war das Geld drauf, eine feine Sache. Noch am selben Vormittag beglich ich drei Monate Mietrückstand und hob zweihundert Dollar ab, die sich in der Tasche meiner Jeans anfühlten wie Weihnachten und Ostern zusammen, als ich zur Union Station schlenderte, um mich mit Lily Pentzler zum Lunch zu treffen.
    Lily hatte ein mehrgeschossiges Restaurant namens America ausgesucht, das nicht nur einen großen Namen, sondern auch eine große Speisekarte hat. Anders hätten die vielen Speisen auch gar nicht darauf gepasst, der Cajun Dirty Rice und das Navajo Fry Bread, die Idaho Shoestring Fries und der New England Schmorbraten … und trotzdem war die Speisekarte nichts im Vergleich zu dem mächtigen Stapel von Lilys Ziehharmonikaordnern, der zwischen uns aufragte wie der Hadrianswall. Zwar hoch genug, mir die Sicht auf Lily zu versperren, aber kein Bollwerk gegen ihre Stimme.
    »Du hast einen Schlüssel von Alonzos Wohnung, stimmts? Gut, dann hör zu. In diesem Packen befinden sich drei Abschriften des Testaments. Gestempelt und notariell beglaubigt. Du wirst es vor Gericht eröffnen lassen müssen, das dürfte aber keine Probleme geben. Alonzo hat immer alles von einem Anwalt machen lassen. In dem Ordner ist eine Liste seiner Mietverträge und Kreditkarten, die wirst du allesamt kündigen müssen. Hier drin sind Kontaktinformationen: Sozialversicherung, Postamt,
Abonnements, Mitgliedschaften. Vergiss nicht, für das Vermögen ein Konto zu eröffnen – am besten bei der Bank of America, weil Alonzo da schon seinen Geldmarktfonds hat. Außerdem hat er zwei Hypotheken auf der Eigentumswohnung in der Mass Avenue, die Zahlungen wirst du also vorläufig weiterlaufen lassen müssen. Und nächstes Frühjahr musst du eine Steuererklärung abgeben, aber keine Sorge, ich kenne einen ausgezeichneten Steuerberater in Cleveland Park –«
    Ihr Redefluss brach erst ab, als der Kellner kam und fragte, ob wir uns entschieden hätten.
    »Nein, haben wir nicht«, fauchte sie. »Und ich brauche noch mal fünfzehn Minuten, ehe ich an Essen denken kann. Fünfzehn Minuten. Dann hätte ich gern einen Negroni. Trocken . Mit einem Spritzer Soda. Vielen Dank.«
    Eine kleine weiße Hand kam hinter dem Stapel hervor und wedelte ihn weg wie einen unangenehmen Geruch. Ganz wie Alonzo, diese Geste.
    »Wo war ich? Oh! In dieser Mappe ist eine Aufstellung von Alonzos Gläubigern. Danach geordnet, wie lange er sie schon hinhält. Ich empfehle, die Forderung von Calvert-Woodley Wines & Spirits unverzüglich zu begleichen. Alonzo hatte auch eine Klage am Hals, von einer Trockenbaufirma, deren Name mir jetzt nicht einfällt, aber das findest du in diesem Ordner, zusammen mit den Anordnungen für die Bagatellforderungen …«
    Unter uns lag die Haupthalle der Union Station, deren Marmorfliesen den Hall des Geschirr- und Besteckgeklappers zurückwarfen. Die Halle summte von Menschenstimmen. Pendler, Shopper, Zugreisende. Alle waren irgendwohin unterwegs.
    »Henry, ich weiß nicht. Hörst du mir überhaupt zu?«
    »Ich frage mich gerade, warum Alonzo nicht dich zu seinem Nachlassverwalter bestimmt hat.«
    Ihr rundes, mehliges Gesicht reckte sich über den Aktenstapel. » Mich  …«
    »Du könntest das viel besser. Du hast sämtliche Unterlagen, du weißt, was alles zur Erbmasse gehört, und überhaupt, du bist doch praktisch die weltweit führende Alonzo-Expertin.«
    »Henry«, sagte sie. »Sieh mich an. Sehe ich aus wie jemand, der Zeit hat, einen Nachlass zu verwalten?«
    Und sie hatte recht: die nächsten sechs Wochen in ihrem Terminkalender waren voll. Das wusste ich, weil sie mir sämtliche Einträge runterrasselte. Auktion bei Maggs. Pekinger Buchmesse. Verabredungen mit Händlern in London und San Francisco. Konferenz an der Rare Book School in Charlottesville. Einige aussichtsreiche Kontakte in Mailand. So ging es weiter, und bei jedem einzelnen Eintrag schwang die Aussage mit: Henrys Terminkalender ist leer.
    »Jedenfalls«, fuhr sie gedämpfter fort,
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