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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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erklären, welche Niedergeschlagenheit mich auf einmal befiel. Ich war doch Mitte vierzig! Enttäuschung war mein täglicher Haferschleim. Zurück in die Tretmühle, Henry.
    Und da hörte ich jemanden rufen:
    »Ah, da sind Sie ja!«
    Ein derart vertraulicher Ton, dass ich mich auf noch einen Verwandten Alonzos gefasst machte. (Die Wax-Familie war zu ihrer Zeit eine mächtige Sippe.) Es war aber jemand anders. Ein Mann, der den Frühwinter seines Lebens erreicht hatte: Silberhaar, stattliche Gestalt, hager, gerade Haltung. Strotzend vor Rüstigkeit: Seine Haut sah aus wie mit Bimsstein bearbeitet. Er nahm meine Hand und hielt sie vielleicht eine Sekunde zu lange fest, aber sein Lächeln war gütig und etwas unstet. In einer BBC -Sitcom wäre er der Vikar gewesen. Und wäre auf einem Fahrrad mit dicken Packtaschen eingetrudelt.
    »Mr. Cavendish«, sagte er (und in der Tat mit britischem Akzent). »Dürfte ich kurz mit Ihnen sprechen?«
    »Worüber?«
    Und hier bricht meine Schilderung der laufenden Ereignisse zusammen. Denn als er nun sprach, war es, als habe er bereits gesprochen. Und es war, als spreche auch Alonzo aus seinem nassen Grab. Und vielleicht stimmte sogar ich selbst mit ein. Wir alle im selben hilflosen Akkord, nicht ganz im Einklang, aber unmöglich auseinanderzuhalten.
    » Die Schule der Nacht .«

 

    2
    » H abe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte der alte Mann. Sein Blick war nicht mehr ganz so unstet.
    »Nein.«
    »Ich frage nur, weil Sie sich anscheinend erschrocken haben.«
    »Oh, nein, es ist bloß …« Ich strich mir über den Kopf. »Es war ein langer … der ganze Tag war so … für einen Moment war mir, als hätte ich Alonzos Geist gesehen.«
    »Wer sagt denn, dass er es nicht war?«
    Der alte Mann summte vor sich hin, griff in seine Rocktasche, zog einen Schirm hervor, schwarz und praktisch, und ließ ihn per Daumendruck aufspringen.
    »Die Sonne macht mir zu schaffen«, sagte er.
    »Verzeihung, aber ich habe Ihren Namen nicht verstanden.«
    Er hatte keine Eile, ihn mir zu nennen. »Bernard Styles«, sagte er schließlich.
    Seinem erlesenen Akzent haftete eine fast unmerkliche keltische Färbung an, so wie der Kleidung eines ehemaligen Rauchers der Tabakrauch anhaftet.
    »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte ich.
    »Sie haben vielleicht von mir gehört?«
    »Ich komme nicht viel herum.«
    »Na dann«, sagte er unbekümmert, »sollte ich Ihnen vielleicht sagen, dass ich auf demselben Gebiet sammle wie der arme Alonzo. Nur in einem anderen Machtbereich.«
    »Sie meinen England?«
    »Buckinghamshire. Nicht sehr weit von Waddesdon Manor.«
    »Wenn das so ist, war es sehr freundlich von Ihnen, die weite Reise auf sich zu nehmen.«
    »Oh«, sagte Bernard Styles. »Das hätte ich mir niemals entgehen lassen.«
    Weder sein Tonfall noch sein Gebaren hatten sich verändert. Nur auf meiner Haut tat sich etwas – ein barometrisches Kitzeln.
    »Ob Sie es glauben oder nicht«, sagte er und ließ den Schirm langsam kreisen, »das ist mein erster Besuch in der Hauptstadt Ihrer Nation. Kommt mir alles ganz phantastisch vor.«
    Mit dem »phantastisch« übertrieb er zwar ein bisschen, fand ich, aber dann wandte ich mich nach links und sah das Washington Monument wie eine Gedankenwolke aus dem Hirn des Capitols aufsteigen.
    »Oh«, sagte ich. »Ich verstehe, was Sie meinen. Tut mir leid, das mit der Hitze.«
    »Ja, die ist ziemlich unangenehm. Man bekommt ja kaum Luft. Vielleicht sollten wir doch lieber reingehen.«
    Nun aber stellte sich uns ein großer Mann mit einer Stirn wie eine Stoßstange in den Weg.
    »Das ist Halldor«, sagte Bernard Styles.
    Ein skandinavischer Name, die Nationalität allerdings unklar. Seine ehemals gebräunte Haut hatte sich geschält und fahle Inselchen hinterlassen, sein Hals wirkte vor dem Schwarz seines Vikunja-Jacketts beinahe elfenbeinweiß. Halldor trug das Jackett locker über einem T-Shirt, auf dem in Kirschrot zu lesen war: I ♥ DC . Erschreckende Vorstellung, dass es T-Shirts in solchen Größen gab.
    »Ich fürchte, Halldor ist der Einzige, der in diesem Miasma gedeiht. Ich persönlich ziehe Ihre höchst effizienten amerikanischen Klimaanlagen vor. Gehen wir, Mr. Cavendish?«
    Ein Schwall Hitze gelangte mit uns hinein, und für ein paar Sekunden schien sich die Luft um uns herum zu ionisieren. Weiter hinten stritt Lily Pentzler mit dem Lieferanten. Sie holte Luft, sah in meine Richtung – und erblickte Styles. Eine Falte zerteilte ihre Stirn, und dann
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