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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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sonst üblichen Phasen – Ergründung, Entwicklung, Auflösung – allesamt übersprungen und sind gleich auf die Zielgerade eingebogen. Unser goldenes Jahr , so nennt Clarissa es.
    Und darum verbringen wir wie ein altes Paar viel Zeit auf Bänken. Still wie der Schnee. Unsere Geschichte spricht wohl für uns. Eine Geschichte, an der zufällig zwei Menschen Anteil haben, die Jahrhunderte vor unserer Geburt lebten und starben. Alle vier zusammen, wage ich zu behaupten, haben wir ein gutes langes Leben gehabt.
     
    Und das Geld? Vorläufig leben wir von den Zinsen, die Alonzos Kapital abwirft. Clarissa hat eine Liste von Wohltätigkeitsorganisationen gemacht, die sie in ihrem Testament bedenken will. Und ich habe eigene Vorstellungen zu dem Thema, die ich vorläufig für mich behalte.
    Raleghs Brief? Darüber habe ich eine ganze Weile gegrübelt, aber nachdem ich mich zu einem Entschluss durchgerungen hatte, war es das Leichteste von der Welt, die beiden alten Blätter Schmierpapier in einen gepolsterten Umschlag zu stecken und anonym an die Folger Shakespeare Library zu schicken. Sollen die Fachleute die Wahrheit ergründen. Sollen sie auch den Ruhm ernten, wenn sie ihn wollen. Meine Karriere spielt sich zu meiner großen Überraschung hier ab. Auf Parkbänken.
     
    Einmal habe ich sie gefragt: »Warum hattest du das an?«
    »Was denn?«
    »Am Tag von Alonzos Begräbnis. An dem Tag, als ich dich zum ersten Mal sah. Du hattest keine Trauerkleidung an. Sondern ein Sommerkleid. Scharlachrot.«
    »Oh.«
    Sie schloss die Augen, und ich dachte für einen Moment, sie sei eingenickt. (Das macht sie oft.) Aber sie wägte nur ihre Worte.
    »Vermutlich weil ich nicht an den Tod glaube«, sagte sie. »An seine große Macht.«
    Für mich ist das der beste Ausdruck von Apostasie. In Momenten größter Stärke oder vielleicht größter Schwäche habe ich auch nicht geglaubt. Und wenn mir ein Diplom der Schule der Nacht gebührt, dann dafür.

Isleworth, England

    Herbst 1603

    54
    E nde Oktober, und in Syon Park herrscht Stille. Die Kuckucks, Schwalben, Amseln und Drosseln sind fortgezogen; es sind nur noch die letzten Rosen des Jahres da, die Scharlacheichen und Tümpel aus Ulmen- und Buchenlaub … Ab und zu einmal ruft ein Reiher über den Fluss. Nur probehalber, ob jemand ihn hört. Es ist eine gute Zeit zu sterben.
    Mit ihm jedoch will der Tod nichts zu schaffen haben. Warum sonst hat er ihn nicht Margaret ins Grab folgen lassen? Warum hat sich seine Gesundheit in den Wochen, die seither vergangen sind, nicht ein Jota zum Schlechteren gewendet? Ist es bloß eine Prüfung auf seinen Mut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen?
    Der Verwalter des Earl of Northumberland kehrt Anfang November zurück und stellt zu seinem Erstaunen fest, dass Harriot immer noch in seinem Haus ist – und zum ersten Mal seit Menschengedenken einen Bart trägt. Aber kein Vergleich mit dem üppigen Gewächs des Earls, das gerade à la mode ist, sondern ein spilleriges, graues, zotteliges Ding, ein richtiger Kümmerling von Bart, der die Fragen, welche er stellt, selbst zurückweist.
    Endlich kommen wieder Barken unter vollen Segeln flussabwärts. London ist sicher – jedoch nicht für Ralegh. Eine Reihe atheistischer Verse, die ihm zugeschrieben werden und weit verbreitet worden sind, haben sogar seine treuesten Unterstützer entsetzt und die öffentliche Meinung gegen ihn gewendet. Als er zum Gericht geht, säumen Londoner Bürger die Straßen und
haben dabei nur eines im Sinn: Sie lassen ihre Flüche und Tabakspfeifen auf ihn niederprasseln.
    Aber Ralegh verteidigt sein Leben und tritt so würdevoll auf, dass er, obwohl ein Todesurteil gegen ihn gefällt wird, das Gericht als Held verlässt. Männer, so heißt es, die hundert Meilen gereist wären, um ihn hängen zu sehen, würden jetzt eintausend Meilen reisen, um ihn zu retten. Statt diesem Umschwung der Meinung mannhaft zu trotzen, wandelt König Jakob das Todesurteil gegen Ralegh um – und schickt ihn anschließend für ewig zurück in den Tower.
    Harriot, der sich noch nie um die Erfüllung einer Pflicht gedrückt hat, besucht seinen alten Freund regelmäßig mit wissenschaftlichen Instrumenten im Gepäck. Doch die aufmunternden Worte, die Harriot normalerweise auch dabeihat, sie fehlen jetzt. Es ist an Ralegh, den Gang ihrer Gespräche zu steuern. Eines Nachmittags schlendern sie auf dem hohen Weg, von dem aus man die Themse überblickt, an den Tauben vorbei, da spricht der große Mann
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