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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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seinerseits aufmunternd.
    »Die Schule der Nacht. Sie besteht weiter, nicht wahr?«
     
    In Syon House schläft Harriot den halben Tag, scheut alle Arbeit, wandelt von einem Zimmer ins nächste. Der Bart verschwindet wieder (er hasst das Kratzen), aber der Hunger nach ihr, der größer ist als die Trauer oder vielleicht ihr anderes Gesicht, der bleibt.
    Er lebt, irgendwie, ohne zu leben. Die Frau, die ihn in dieser Kunst geschult hat, sie ist nicht mehr, und der Schüler tut sich schwer, vom Lehrer zurückzutreten. Ihn rettet vielleicht nur dieses: An einem vielversprechenden dunstigen Vormittag im April steckt der Earl of Northumberland den Kopf zu Harriots offenem Fenster herein und sagt:
    »Forellen, Tom?«
     
    Der Mittsommerabend ist am härtesten, denn er denkt unweigerlich zurück an jene Nacht mit Margaret auf dem Turm. Die Venusphasen … das Schwellen ihrer Lippen … die Geschichten von fliehenden Gespenstern, die sie erzählt hat.
    In der Nacht ersteigt er die Treppe des Nordwestturms. Der Himmel ist bewölkt, aber nebelfrei. Er späht in den Regen und wartet.
    »Bist du da, Margaret?«
     
    Hätte er doch ein Liebesgedicht für sie geschrieben! Das wünscht er sich oft. Dann wieder: wie hätte er es mit Astrophil und Stella aufnehmen sollen?
    Und als er zu dem Blatt greift, auf das sie ihre letzte Botschaft gekritzelt hat, schreibt er … keine Verse, genau genommen nicht einmal Worte, sondern Chiffren, Rätsel, kleine Anspielungen: die gemeinsame Währung ihres Lebens. Es bereitet ihm sogar Vergnügen, sich vorzustellen, dass sie über ihm steht, während er seine Notate mit dem Vergrößerungsglas vornimmt, damit er so klein schreiben kann wie nur möglich.
    Ja, ich verstehe, Tom. Gut gegeben.
     
    Zuletzt ist es nicht die Pest, die ihn holt, sondern ein ärgerlicher roter Fleck auf seinem oberen linken Nasenflügel. Harriot schenkt ihm keine Beachtung, und der Fleck hat seinerseits keine Eile, den Rest seiner Nase zu besiedeln. Dreizehn Jahre vergehen, bevor es ihm gefällt, auf Harriot Lippe überzugehen. Hier endlich lässt er nun doch eine gewisse Ungeduld erkennen und breitet sich rasch über Gaumen, Zunge und Kiefer aus.
    Zuletzt vermag Harriot kaum noch zu sprechen. Jeder Atemzug ist eine Qual. Seine letzten Tage verbringt er in der Threadneedle Street, als Gast eines Tuchhändlers, der vor so vielen Jahren mit ihm nach Virginia gesegelt war. Man schickt nach Ärzten – einer geht so weit, Harriots Leiden dem Tabak anzulasten –, seine treueste Pflegerin aber ist nur für ihn allein sichtbar.
    Ich kenne deinen Schmerz , sagt sie. Aber schon bald kommst du auf die andere Seite und wirst dich fragen, was die ganze Aufregung sollte.
    Ralegh ist inzwischen heimgekehrt zu Gott. Northumberland sitzt im Tower. Drei andere stehen an Harriots Bett, als er hinscheidet, und jeder von ihnen wähnt sich angesprochen.
    »Oh, du hattest recht. Ja, ich verstehe. Du hattest ganz recht.«

Nachwort
    Was mich dazu inspiriert hat, Algebra der Nacht zu schreiben:
     
     
    Tiny Tim … Edgar Allan Poe … ein französischer Polizist namens Vidocq … auf die eine oder andere Art steht am Beginn meiner Bücher immer eine Gestalt. Jemand, der mich fasziniert. Der Fragezeichen in mir setzt. Der bisher vielleicht nicht in dem Maße Gehör gefunden hat, wie er es verdient.
    Die Entstehungsgeschichte meines letzten Buches hingegen ist anders. Es begann mit einem Begriff.
    Einem Begriff, hervorgezaubert von dem wunderbaren Zeitfresser und Ideengenerator namens Google. Vor einigen Jahren brachte ich einmal einen ganzen Nachmittag damit zu, von Link zu Link zu springen, nur um zu sehen, wo ich landete – und fand mich unerwartet in einem Wikipedia-Eintrag wieder. Mein Blick wanderte auf dem Bildschirm nach oben, und dort las ich: The School of Night .
    Der Begriff war mir vollkommen neu, und nachdem sich das nun geändert hatte, bekam ich ihn nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte einen eigenen Impetus, er barg ein Geheimnis … und eine Geschichte . Die brauchte ich nur zu finden.
    Ich erfuhr bald, dass diese Schule keine Nullachtfünfzehn-Einrichtung aus Stein und Mörtel war. Es war auch keine Bildungsstätte für Hexenmeister. Es war schlicht eine Gruppe von Männern, Intellektuellen wie Walter Ralegh und Christopher
Marlowe, die sich (so das Gerücht) des Abends spät versammelten und mit dunklen Künsten und Häresie abgaben.
    Inzwischen haben Sie es wahrscheinlich schon erraten: Ich war Feuer und Flamme. Ich
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