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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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Sie atmete aus, ruckte mit den Schultern. »Was noch?«
    »Keine Ahnung.« Ich zucke mit den Achseln. »Ich hab keine Strichliste geführt.«
    »Das ist gut.«
    »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
    »Ja. Ich bin wieder arbeitslos, da …«
    Wir saßen noch einige Minuten so da. Ganz allein bis auf ein Dreirad, das seltsamerweise ohne ein Kind dazu an uns vorbeirollte.
    »Es war nicht der falsche Moment«, sagte ich. »Für diese Worte.«
    »Wie auch immer.«
    »Nein. Das Dumme ist – ich meine, das musst du verstehen, meine Beziehung zu diesen Wörtern ist stark belastet. Ich hab sie bei dem ersten Mädchen verwendet, das Sex mit mir hatte. Ich war so – so über alle Maßen dankbar, da sind sie einfach rausgepurzelt. Und seitdem – Gott, ist es ein Dutzend? – hat bestimmt mehr als ein Dutzend Frauen diese Wörter von mir gehört. Meistens war es zwar ein Irrtum, aber unaufrichtig bin ich genau genommen nie gewesen. Das Dumme ist jetzt nur, ich kann sie nicht mehr sagen, ohne gleich zu denken, ach, das bedeutet Ärger. Und das will ich in meinem Leben wirklich als Allerletztes haben, auch wenn ich nicht genau weiß, was noch bleibt, wenn der Ärger vorüber ist.«
    »Ähm, okay, das verstehe ich.«
    »Nein. Nein  …«
    Und jetzt konnte ich nicht mehr auf dieser unerträglich kleinen Bank sitzen, meine Beine waren schon eingeschlafen, und als
ich aufstehen wollte, knickten sie unter mir weg, und ich sank … auf die Knie in das kühle Gras. Und sah zu Clarissa hinauf. Und spürte meine Demütigung sehr deutlich, spürte aber auch, dass dies die beste Haltung war, wenn alles herauskam.
    »Ich liebe dich«, sagte ich. »Ich liebe dich, Clarissa Dale … Gordon … Borgia , was immer dein Name ist. Was immer deine Gemeinheit war. Ich liebe dich mehr, als es gut für mich ist. Mehr als es vielleicht gut für dich ist. Ich liebe dich für die ganze Vorstellung, fünf Akte plus Epilog plus Vorhänge. Ich liebe dich, ohne etwas zu verlangen.«
    Eine einzelne Träne zitterte in ihrem Augenwinkel. Sie wischte sie gereizt weg.
    »Gott … Henry.«
    »Mir tut nur leid –«
    »Was denn?«
    »Dass es so schwer wird, wieder aufzustehen.«
    Sie lachte.
    »Du weißt noch nicht mal die Hälfte, Henry.«
    Sie half mir auf, und dann zog sie meine Arme um sich und hielt mich fest. Und plötzlich war sie da , ganz und gar, Geruch, Haut, Herz und Seele, war hinreißend konzentriert, und ihre dunklen Augen leuchteten wie der nächste Tag. Doch nun ist Schwarz der Schönheit Farbe worden …
    »Schön, dass wir das geklärt haben«, sagte sie.
    In dem Moment ging eine uralte Frau an uns vorbei, die einen selbstgestrickten, aber trotzdem tragbaren Pullover anhatte und einen Hund ausführte. Ihr Gesicht erhellte ein Lächeln, und wir grinsten zurück, entzückt darüber, dass wir genau die waren, für die sie uns hielt.
    »Gehen wir ein Stück«, sagte Clarissa.
    Und das taten wir auch. Zahllose Häuserzeilen entlang, in alle vier Himmelsrichtungen. Vorbei an Vogeltränken und Azaleenbüschen, an Eckläden und verlassenen Mittelschulen. Die Brise legte uns ein Frösteln auf die Haut, das die Sonne dann wieder wegbrannte. Ich beneidete niemanden.
    »Henry, darf ich dich etwas fragen?«
    »Natürlich.«
    »Der Mann, der von der Kew Bridge gesprungen ist. Das war –?«
    »Ja.«
    Sie nickte.
    »Nun, das tut mir leid«, sagte sie. »Er wird mir fehlen, falls sich das nicht seltsam anhört.«
    »Nein. Ich weiß nicht, ob – weißt du, ich habe herausgefunden, dass Alonzo –«
    »Lily und Amory, ja. Zu dem Schluss war ich selber schon gekommen. Bernard hätte es weiß Gott auch getan haben können, mich jedenfalls hätte das nicht überrascht, ich weiß nur nicht, warum er das hätte tun sollen. Er hatte kein Motiv.«
    »Was ist mit dem Schatz? Wäre das kein Anreiz gewesen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Darauf hat Bernard keinen großen Wert gelegt. Er war bereit, eine Weile abzuwarten, zu schauen, was daraus wird, aber er war hinter etwas anderem her.«
    »Und das wäre?«
    Sie sah mich irritiert an. »Das Dokument, Henry.«
    »Aber das …«
    Ich zog ein finsteres Gesicht, wandte mich abrupt ab.
    »Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte er sich so um ein paar Zeilen von Walter Ralegh bemühen? Klar, eine gewisse Summe sind die schon wert, aber so viel nun auch wieder nicht. Nichts, wofür es sich zu sterben lohnte, das steht fest.«
    » Er hat das anders gesehen.«
    »Warum?«
    »Weil die erste Seite des Briefs ohne die
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