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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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nicht die Polizei eingeschaltet, als es verlorenging? Er hätte sich eine Menge Ärger erspart.«
    »Also … gibt's noch irgendetwas, das den Brief mit Styles in Verbindung bringt?«
    Sie dachte gründlich nach. Schüttelte dann den Kopf.
    »Nicht mehr.«
    »Weiß sonst noch jemand davon?«
    »Meines Wissens nur Personen, die jetzt tot sind.«
    Aber auch Tote können einem übel mitspielen. Meine Karriere hatte ein Dilettant aus dem 18. Jahrhundert entgleisen lassen. Der Brief konnte …
    »Und wenn er eine Fälschung ist?«, sagte ich bedrückt, »Kann doch sein.«
    »Möglich«, sagte sie. »Das wirst wohl du herausfinden müssen.«
    »Ich?«
    »Wer sonst?«
    Und dann lächelte sie. Gerade so lange, dass es mir das Herz brach.
    »Denn idealerweise, Henry, sollte das jemand machen, der heute in einem Jahr noch lebt.«

 

    53
    D ie Ärzte waren sich alle einig: Es war das Schlimmste, was es gab.
    Mit sechsunddreißig wies Clarissa Gordon die biologischen Merkmale einer Siebzigjährigen auf: sehr kurze Telomere, eine zunehmend versagende Homöostase, eine drastische Reduktion der Zellteilung. Sie alterte doppelt so schnell wie jeder andere Mensch, ihre Symptome deckten sich aber mit keiner der bekannten Krankheiten (Hutchinson-Gilford'sche Progerie Syndrom, Werner'sches Syndrom, Cockayne-Syndrom, progressive zerebellare Ataxie), Teile ihres Körpers jedoch – Haut, Haar, Knochen – schienen seltsam unempfindlich gegen die vorzeitige Alterung, die sie ansonsten befallen hatte.
    »Es ist wie Hollywood«, sagte sie. »Da ist das Altern auch bis zum Schluss eine glamouröse Angelegenheit. Ich hätte es nicht besser treffen können. Weiß du was, das müsste eigentlich nach mir benannt werden …«
    Bis wir uns damit abfanden, suchten wir über ein Dutzend Spezialisten auf – Physiologen, Gerontologen, Genetiker, Evolutionsbiologen, Embryologen. Clarissa wurde einer Mikroarray-Analyse unterzogen, man machte bioinformatische Tests; ihr komplettes Genom wurde sequenziert. Spezialisten beugten sich über ihr Haar und ihren Speichel wie antike Omenkundler bei der Leberschau. Das Gleiche geschah mit ihren Eingeweiden. Und ihren Epithelzellen und ihrem Knochenmark. In Bethesda wollte ein Forscher im National Institute of Health ihr gleich
einen kompletten Flügel widmen. Ein Professor von der University of Oklahoma flehte sie an, ihm ihre Organe zu hinterlassen. 
    Egal, welches Fach oder welche wissenschaftliche Disziplin, keiner konnte genau erklären, was in ihrem Organismus geschah oder warum. Einig waren sich alle nur über das Ende.
    Aber das muss ich ihr zugutehalten: Es war nie Clarissas Mission gewesen, wie ein alter Stuhl zusammenzuklappen. Sie hatte eine Geschichte zu erzählen.
    Von dem Tag an, an dem sie das alte Futteral mit dem Teleskop in den Händen hielt, begannen sich die Bruchstücke, die sie die vielen Monate über nicht losgelassen hatten, zu einer Erzählung zu fügen. Substantielle Teile fehlten noch, sicher, es gab Brüche in der Kontinuität, aber als ich alles zu Papier brachte, schlossen sich die Lücken, und die Geschichte begann sich selbst zu erzählen. Clarissa sprach; ich schrieb; und wenn das, was wir schließlich zustande brachten, in gleichem Maße Fiktion und Tatsache ist, so ist es zumindest für uns wahr.
    »Dir ist klar, was das bedeutet, Henry, nicht?«
    Ich hatte gerade unsere letzte Fassung ausgedruckt, und Clarissa drückte sich den Stapel eher schüchtern an die Brust.
    »Es bedeutet, dass du jetzt genauso verrückt bist wie ich.«
    Ich bin nicht so sicher. Gewiss, ich bin kein Mediziner, ich bin nicht einmal approbierter Metaphysiker, aber in Momenten, in denen die Mauern meines Empirismus durchlässiger werden, greife ich auf eine Privattheorie zurück. Thomas Harriot hat die Frau, die er liebte, nicht getötet, obwohl ich begreife, warum es so ausgesehen haben mag. Er stand auch nicht ohnmächtig dabei. Durch Zufall oder Plan oder durch eine Kombination beider fing er ihre Essenz mit beiden Händen ein und schleuderte sie in die Zukunft. Ohne zu ahnen, wo sie landen würde.
    Wir durften natürlich nicht erwarten, dass er es schon beim ersten Versuch perfekt hinbekommen hatte. Und so wurde der Funke mit jeder neuen Inkarnation schwächer, und vielleicht wird er mit Clarissa sterben. Oder aber er stirbt nie.
    Eins jedoch weiß ich: Mit ihr zusammen zu sein ist etwas Kost
bares und Gutes, und diese Kostbarkeit und Güte wären ohne die Kürze nicht denkbar. Wir haben die
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