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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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zweite – ohne Raleghs Unterschrift – auch kaum noch etwas wert ist. Eigentlich nichts.«
    Ich sah sie an.
    »Es gibt eine erste Seite?«
    »Yep.«
    »Aber Alonzo –«
    »Hat sie nie gesehen. Verstehst du? Bernard war nicht der Dummkopf, für den Alonzo ihn hielt. Gut, eine Karte, zwei, die hat er hergezeigt, aber nie seine ganze Hand.«
    »Styles hatte diese erste Seite also von Anfang an in seinem Besitz.«
    »Yep.«
    »Und er wollte nichts anderes als … sie mit der zweiten zusammenführen.«
    »Yep.«
    »Was ist denn an der ersten so besonders?«
    Jetzt lächelte Clarissa: langsam und frech. Sie ließ ihre Ziegenlederhandtasche aufschnappen und zog ein gefaltetes Blatt Papier heraus.
    »Sieh selbst.«
    Es war eine Kopie. Von derselben Hand verfasst wie das andere Dokument. In derselben Zeit vom selben Mann geschrieben. Aber es veränderte alles.
    »Das kann nicht sein«, murmelte ich.
    »Lies selbst.«
     
    An meinen sehr lieben Freund und Herrn Thomas Harryott in London, Gentleman,
    Ihr hattet die Güthe, Euch nach Unserer Gesundheit zu erkundigen.
    Die Königin lieget jetzt in White Hall aufgebahrt. Sie kam ein mit dem Falle des Herbstlaubs und ging aus im Frühling, und niemalen war die englische Nation wohl so in Schwarz gehüllet wie Ihr selbst. Wie groß auch das Entsetzen, das ihr Tod allerorten ausgelöst, Ihr werdet verstehen, dass ich mehr Ursach hab zu trauern als die Meisten. Das Schicksalsrad dreht sich weiter, eine neue Sonne geht von Norden auf, und nie mehr wird die Wahrheit für mich zeugen.
    Schon werden überall Verleumdungen und schändliche Reden verbreitet. Ich weiß nicht, wann ich vor Gericht gestellt werde, wenngleich ich gestehen muss, daß mir nicht schwer ums Herz ist, sondern eigenthümlich leicht, ich weiß auch nicht, warum. Besse und ich begaben uns zu den Innes of Court, dortselbst die neueste Grille von Meister Shaxper zu sehen. Der Titel war Ende gut, alles gut, und ein kurioser und sonderbarer Stück habe ich niemalen gesehen. Am stärksten traf mich
der Beiname, der unserm Helden Bertram zugedacht ward. Ein alberner, müßiger junger Mensch, der aber bei alle dem sehr verliebt ist.
    War das nicht bis ins Kleinste, wie Kit von Shaxper zu sprechen pflegte? Ihr entsinnt Euch, hoff ich, jener Nacht, da Kit seinen Liebhaber nach Sherburne mitbrachte und der Gesellschaft unserer Gelehrten aufdrängte. Worte kamen dem jungen Kerle nur spärlich von den Lippen, und obzwar Wir die fernsten Gestirne nach ihren tiefsten Mysterien absuchten, war ihm kein Mysterium größer, nichts herrlicher als sein geliebter Kit. Wir achteten Seiner kaum, des Jüngelchens aus Warwickshire, erst als er in Tränen aufgelöst ob Kits Hohn und Spott.
     
    Wieder und wieder las ich. Die Wörter flogen nicht davon, womit ich immer noch rechnete, sondern verharrten standhaft, unwirklich, wo sie waren. Und wie hübsch sie zu der zweiten Seite überleiteten, die jetzt aus meinem Gedächtnis aufstieg.
     
    Er wäre nicht der erste Liebhaber, dem Kit so mitspielte, welcher doch Heiß und Kalt entbrannte in nur einem Atemzug und Beweise für den Teufel oder für unsern Heiland vorbrachte, je nachdem, wohin der Wind ihn trug.
     
    Der Einzige, den ich als Marlowes Liebhaber nie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, war der Riese, der uns die ganze Zeit überragte.
    Ich musste so lachen, dass ich tatsächlich hinfiel. In eine Pflanzschale, eine Traubenlilienranke als Krone auf dem Kopf.
    »Henry?«
    Zu meiner Verteidigung: Es geschieht nicht alle Tage, dass das gesamte Feld der Shakespeare-Forschung wie neu da liegt. Die Wucht eines solchen Ereignisses kann einem schon mal die Beine wegziehen.
    »Atme, Henry.«
    Aber wenn überhaupt, lag hier ein Fall von zu viel Sauerstoff vor. Von zu vielen Möglichkeiten. Wo ansetzen? Falls der Brief echt war, wäre er der aufregendste Fund seit – Gott, den Stücken selbst.
    Er würde die siebenjährige historische Lücke zwischen der Ge
burt von Shakespeares Zwillingen in Stratford und seinem Erscheinen in der Londoner Theaterwelt schließen.
    Er würde der Schule der Nacht neues und weltweites Ansehen als Treibhaus für einige der größten englischen Meisterwerke verleihen.
    Er würde Shakespeare in Verbindung zu Ralegh bringen, zu Harriot, zu Chapman und – das wäre das aufregendste – zu Marlowe, der nicht nur Shakespeares Kollege oder Rivale oder Mitarbeiter war, sondern sein Intimus .
    Und hier die eine Konsequenz, mit deren Erfassung ich noch rang: Er würde
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