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Algebra der Nacht

Algebra der Nacht

Titel: Algebra der Nacht
Autoren: Louis Bayard
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betrachtet, war mein Anspruch wohl wasserdicht. Und wenn man die Frage außerjuristisch beleuchtete … hätte Alonzo nicht gewollt, dass ich das Geld bekomme? Ich vor allen anderen?
    Und da fiel das Gebäude meiner selbstgebastelten Moral in sich zusammen. Denn falls Alonzo das wirklich gewünscht hatte, wie brachte ich es in Einklang mit dem, was gut und gerecht war?
    Ich trank meinen Kaffee aus und stellte die Tasse etwas fester ab, als ich wollte. Und sah den Stuhl auf der anderen Tischseite entschweben.
    Von allein, dachte ich, bis ich die kleine Hand an seiner Lehne erblickte.
    Clarissa Gordon – ehemals Dale – in ihrem roten Wollmantel. Blass und abgespannt, aber auch vom Herbst erfrischt, die Lippen röter, das Schwarz der Augen tiefer.
    »Ist hier noch frei?«, fragte sie.

 

    52
    A ber einfach nebeneinanderzusitzen klappte nicht so gut: Wir hatten nicht genug Abstand. Deshalb standen wir auf und gingen spazieren.
    Es war wesentlich kühler als bei unserem letzten Gang über den Capitol Hill. Die Sonne war klein und mild, nur der Ahorn glühte rot. Und doch blieb Clarissa wie beim letzten Mal nach einigen Blocks stehen.
    »Was dagegen, wenn wir uns setzen, Henry?«
    Sie wirkte aber nicht mal ansatzweise müde.
    »Ähm … ich sehe keine …«
    »Dort vielleicht?«
    Sie zeigte auf eine kleine Steinbank mit kleinen gemeißelten Tierfigürchen, die vor einem alten Bauernhaus stand. Auf so einer Bank, malt man sich aus, sitzen die Kinder an langen Julinachmittagen, lachen, trinken Limonade und legen den Grundstein für spätere Erinnerungen. Nur weiß man, dass es reine Phantasie ist.
    »Das ist ein Privatgarten«, sagte ich.
    »Ich wette, die sind nicht zu Hause.«
    Auf die Bank passten wir nur, wenn wir uns gleichzeitig niederließen und unsere Knie bis zur Brust hochzogen. Ich wäre mir wie alles Mögliche vorgekommen, nur nicht erwachsen … hätten sich in mir nicht Erwachsenengefühle geregt. Ausgelöst durch weiter nichts als ihren Geruch nach Minze und Nelken.
    »Ich hab nachgedacht«, sagte sie. »Aus welchen Gründen du
mich hassen könntest. Wie wär's, wenn ich meine Liste Punkt für Punkt durchgehe, und du sagst mir, ob noch etwas fehlt?«
    »Okay.«
    »Erstens die Lügen. Die gebe ich gleich zu, nur vielleicht nicht in dem Maße, wie du denkst. Ich bin wirklich eine dumme Wirtschaftswissenschaftlerin. Für Bernard war das in Ordnung, er wollte nicht, dass ich ein Ass bin.«
    »Oder dass die Tarnung der dummen Wirtschaftswissenschaftlerin auffliegt.«
    »So in etwa. Ich meine aber etwas anderes … die vielen Fragen, die ich dir zu Harriot und Ralegh gestellt habe, die waren alle aufrichtig gemeint. Ich wollte das wirklich wissen. Ich hab in der Zeit mit dir und Alonzo echt was gelernt.«
    »Ich mit dir auch.«
    »Hm. Wirklich?« Ihre Knie wanderten hinauf bis an ihr Kinn. »Das lasse ich mal so stehen. Zweitens könntest du mich hassen, weil du vielleicht denkst, das mit den Visionen war gelogen. Das stimmt aber nicht, denn dadurch hab ich Bernard überhaupt erst kennengelernt. Ich lebte in London und hatte jede Nacht diese verfluchten Visionen – ich war völlig fertig –, und Bernard hielt einen Vortrag am Humanities and Arts Research Centre. Über, was soll ich sagen, die Schule der Nacht.
    Ich ging also hin. Und hinterher bin ich zu ihm nach vorn gegangen – genauso wie wenige Wochen später bei Alonzos Vortrag – und hab ihm erzählt, ich hätte da ein Problem, und darauf er: ›Ist ja komisch, ich habe auch ein Problem. Und wenn Sie die mit der Kampfsport-Ausbildung sind, wie wär's, wenn wir uns zusammentun? Sie lernen alles Nötige über die Schule der Nacht, und ich bekomme mein Dokument wieder.‹ Es kam mir vor wie die perfekte Win-Win-Situation.«
    Sie hielt inne und überlegte.
    »Außerdem brauchte ich Geld, und es war ein Job.«
    Sie hob ein Blatt einer Chinesischen Birne auf und zerpflückte es nach allen Regeln der Kunst. Zuerst die Ränder, dann die Adern und die Mittelrippe. Als praktisch nur noch der Blattstiel übrig war, warf sie es weg.
    »Bei der Hochzeit, Henry, was ich da gesagt habe –«
    »Ja.«
    »Ich meine, als ich gesagt habe, ich liebe dich.«
    »Richtig.«
    »Das war auch nicht gelogen. Es war bloß – weißt du, es war der falsche Moment, davon anzufangen. Jedenfalls, für die Sachen, bei denen ich gelogen habe , entschuldige ich mich. Wirklich. Auch dafür, dass ich dich in Gefahr gebracht habe, was natürlich nicht meine Absicht war. Und …«
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