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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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beleidigt zu werden; denn ich habe es von allen am meisten verdient, habe meine Hände in Unschuld gewaschen und es vorgezogen zu schweigen, als ein einziges Wort genügt hätte, alles zu verändern.
    Die jungen Frauen rufen mir etwas zu. Einige Leute drehen sich überrascht nach mir um: Kenne ich diese Hexen etwa? Ohne mein Dominikanerhabit hätten sie mich möglicherweise verprügelt. Dann dämmert es den Umstehenden, dass ich einer derjenigen sein muss, die sie verurteilt haben, worauf mir jemand auf die Schulter klopft, und eine Frau sagt sogar: »Gut gemacht. Das ist der wahre Glauben.«
    Die verurteilten Mädchen rufen weiter zu mir herüber. Ich bin es leid, noch länger ein Feigling zu sein, hebe den Kopf und schaue sie an.
    In diesem Augenblick verschwimmt das Bild vor meinen Augen, und ich kann nichts mehr sehen.

Ich überlege, ob ich Hilal noch einmal mit zum Aleph nehmen soll. Aber dann verwerfe ich die Idee wieder. Sollte das wirklich der Sinn meiner Reise sein? Jemanden, der mich liebt, zu benutzen, um die Antwort auf eine quälende Frage zu erhalten? Kann ich so wieder zum König meines Reiches werden? Doch auch wenn ich es jetzt nicht schaffe, weiß ich inzwischen, dass ich die Antwort später finden werde; irgendwo auf meinem Weg warten die anderen drei Frauen auf mich - sofern ich den Mut habe, ihn bis zum Ende zu gehen. Ich werde diese Inkarnation ganz sicher nicht verlassen, ohne eine Antwort erhalten zu haben.
     
    ***
     
    Es ist bereits hell, und wir können die große Stadt aus den Zugfenstern heraus sehen. Die meisten Mitreisenden stehen gleichgültig von ihren Sitzen auf, ohne ein Zeichen der Freude über die bevorstehende Ankunft. Vielleicht beginnt eine jede Reise wirklich erst an ihrem Ende.
    Der Zug wird langsamer, die stählerne Stadt auf Rädern kommt zum Stillstand, diesmal endgültig. Ich wende mich Hilal zu und sage:
    »Steig mit mir aus.«
    Sie stellt sich neben mich. Draußen warten Leute. Ein Mädchen mit großen Augen hält ein Plakat mit der brasilianischen Fahne und ein paar auf Portugiesisch geschriebenen Worten hoch. Vor versammelter Presse danke ich Russland und allen Russen für die Gastfreundschaft, die ich auf meiner Reise durch ihr Land erfahren durfte. Ich bekomme Blumen, und die Fotografen bitten mich, vor einer großen Bronzesäule zu posieren, die von einem doppelköpfigen Adler gekrönt ist und an deren Fuß nur eine Zahl steht:
    9288.
    Die Ergänzung >Kilometer< erübrigt sich. Alle, die hier ankommen, wissen, was diese Zahl bedeutet.

Der Anruf
     
    Das Schiff gleitet ruhig über den Pazifik, während die Sonne hinter den Hügeln von Wladiwostok untergeht. Die Traurigkeit, die ich bei unserer Ankunft am Bahnhof in den Augen meiner Reisegefährten zu sehen glaubte, hat sich in ungestüme Euphorie verwandelt. Wir benehmen uns, als sähen wir zum ersten Mal das Meer, niemand möchte daran denken, dass wir uns gleich voneinander verabschieden werden mit dem Versprechen, uns bald wiederzusehen - ausgesprochen nur dazu, um es uns leichter zu machen.
    Die Reise geht zu Ende, das Abenteuer hört hier auf. Schon in drei Tagen werden wir alle wieder zu Hause sein, unsere Familienangehörigen umarmen und die Post durchsehen, die sich inzwischen angesammelt hat. Wir werden die Hunderte von Fotos zeigen, die wir gemacht haben, Geschichten über die Transsib erzählen, über die Städte, durch die wir gekommen sind, die Menschen, die uns unterwegs begegnet sind.
    Hauptsächlich, um uns selbst davon zu überzeugen, dass die Reise auch tatsächlich stattgefunden hat. In drei Tagen, wenn wir zur Alltagsroutine zurückgekehrt sind, werden wir das Gefühl haben, dass es diese Reise niemals gegeben hat. Selbstverständlich haben wir die Fotos, die Fahrkarten, die Souvenirs, die wir unterwegs gekauft haben, aber die Zeit - die einzige, absolute, ewige Herrin unseres Lebens - sagt uns: Du warst nie fort, du bist zu Hause geblieben, in diesem Zimmer, an diesem Laptop.
    Was sind schon zwei Wochen gemessen an einem ganzen Leben? In unserer Straße hat sich inzwischen kaum etwas geändert, die Nachbarn reden immer noch über die gleichen Dinge wie vor unserer Abreise, auch die Zeitungen haben dieselben Themen: die Fußballweltmeisterschaft, die in Kürze in Deutschland beginnen wird, der Iran, der angeblich die Atombombe hat, den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern, Politiker, die ihre Wahlversprechen nicht einhalten.
    Nein, nichts hat sich verändert. Nur wir, die wir
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