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Brasilien

Brasilien

Titel: Brasilien
Autoren: John Updike
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1. Der Strand
    Schwarz ist ein Sonderfall von Braun. Ebenso Weiß, wenn man genau hinsieht. Auf der Copacabana, dem demokratischsten, überfülltesten und gefährlichsten Strand von Rio de Janeiro, verschmelzen alle Farben zur jubilierenden, sonnensatten Farbe von Fleisch, die den Sand mit einer zweiten, lebendigen Haut überzieht.
    An einem Tag nicht lange nach Weihnachten, vor Jahren, als im fernen Brasília die Militärs an der Macht waren, schien der Strand zu blenden, was an der Mittagsgrelle lag, an dem Gedränge der Leiber und an dem Salz, das Tristão in seinen Augen von den Brechern jenseits der Sandbank mitgebracht hatte. So heftig strahlte die Dezembersonne vom Himmel, daß in der Gischt der Brecher dort draußen jenseits der Sandbank immer neue, kleine, kreisförmige Regenbogen rund um den sprühenden Kopf des Jungen aufgeblitzt waren, wie Geister. Trotzdem fiel ihm, als er zu dem zerschlissenen T-Shirt zurückkehrte, das ihm auch als Handtuch diente, das hellhäutige Mädchen im hellen Bikini auf, das im Hintergrund stand, wo sich die Menschenmenge verlief. Hinter ihr erstreckten sich die Freiflächen für die Volleyballspieler und der Bürgersteig der Avenida Atlântica mit seinem wellenförmig gestreiften Mosaikpflaster.
    Sie war in Begleitung eines anderen Mädchens, das kleiner und dunkelhäutiger war und ihr den Rücken mit Sonnenmilch einrieb. Unter den kühlen Berührungen krümmte sie den Rücken, drehte die Brüste nach einer Seite und die schmalen Halbkreise ihrer schon eingecremten Hüften nach der anderen. Es war weniger die Blässe ihrer Haut, die Tristãos schmerzenden Blick auf sie gelenkt hatte. Sehr helle Ausländerinnen aus Kanada oder Dänemark kamen an diesen berühmten Strand, auch Brasilianerinnen von deutscher oder polnischer Abkunft aus São Paulo oder aus dem Süden. Es war nicht ihre weiße Haut, sondern die provozierende Wirkung ihres knappen Badeanzugs, der mit der Haut verschmolz und den Eindruck völliger Nacktheit in aller Öffentlichkeit hervorrief.
    Nicht völlig: Sie trug einen schwarzen Strohhut mit flacher Krone, aufgerollter Krempe und einem schimmernden, dunklen Band. Ein Hut von der Art, dachte Tristão, wie ihn ein Oberschicht-Mädchen aus Leblon zum Begräbnis ihres Vater tragen würde.
    «Ein Engel oder eine Hure?» wandte er sich an seinen Halbbruder Euclides.
    Euclides war kurzsichtig, und wo er nichts erkennen konnte, verbarg er seine Unsicherheit hinter philosophischen Fragen. «Kann ein Mädchen denn nicht beides sein?»
    «Dieses Püppchen ist wie für mich gemacht», sagte Tristão impulsiv, aus jenen inneren Tiefen heraus, in denen sein Schicksal von jähen, unbeholfenen Schlägen geformt wurde, die ganze Stücke seines Lebens auf einmal losbrachen. Er glaubte an Geister und an das Schicksal. Er war neunzehn, und er war kein abandonado, denn er hatte eine Mutter, die aber eine Hure war und sogar noch schlimmer als eine Hure, denn im Suff schlief sie mit Männern ohne Geld und brütete Kaulquappenkinder aus wie ein menschlicher Sumpf aus Gleichgültigkeit und beiläufiger Lust. Er und Euclides waren im Abstand eines Jahres geboren worden. Keiner von ihnen wußte mehr von seinem Vater, als ihre völlig verschiedenen Gesichtszüge verrieten. Sie hatten gerade genug Zeit auf der Schule verbracht, um Straßen- und Reklameschilder lesen zu können, mehr nicht. Sie arbeiteten im Team, klauten und raubten, wenn der Hunger zu groß wurde, und fürchteten die Banden, die sie zu ihren Mitgliedern machen wollten, nicht weniger als die Militärpolizei. Diese Banden bestanden aus Kindern, die so gnadenlos und unschuldig waren wie Wolfsrudel. In Rio gab es damals weniger Verkehr und Gewalt und Armut und Verbrechen als heute, aber denjenigen, die damals dort lebten, erschien die Stadt lärmend und brutal und arm und kriminell genug. Schon seit geraumer Zeit hatte Tristão das Gefühl, daß er über die Kriminalität hinausgewachsen war und sich einen Weg in die Oberwelt suchen mußte, aus der die Reklame und das Fernsehen und die Flugzeuge kamen. Dieses ferne, bleiche Mädchen, so versicherten ihm nun die Geister, wies ihm den Weg.
    Sein feuchtes, sandiges T-Shirt in der Hand, bahnte er sich den Weg zwischen den anderen fast nackten Körpern zu dem ihren, der im Bewußtsein, Beute zu sein, verkrampfter war als die übrigen. Auf seinem T-Shirt in verblichenem Orangerot stand LONE STAR, eine Werbung für ein Gringo-Restaurant in Leblon. In seiner schwarzen Badehose, die so
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