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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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würde mit einem Selbstmord enden! Ich eile hinauf zu ihrem Zimmer im zweiten Stock, aber sie hat schon das Fenster aufgerissen und steht auf der Brüstung.
    »Hilal! Wenn du aus dieser Höhe springst, wirst du nicht sterben, sondern dich höchstens für den Rest deines Lebens zum Krüppel machen.«
    Sie hört mir nicht zu. Ich muss ruhiger werden, die Situation in den Griff bekommen und ebenso viel Autorität ausstrahlen wie sie selbst wenige Tage zuvor am Baikalsee, als sie mir verbot, mich umzudrehen, damit ich sie nicht nackt sah. Tausend Möglichkeiten schießen mir in diesem Moment durch den Kopf. Am Ende wähle ich die einfachste.
    »Hör zu. Ich liebe dich. Niemals würde ich dich hier allein zurücklassen.«
    Sie weiß, dass es nicht stimmt, aber die Liebesworte zeitigen umgehend Wirkung.
    »Du liebst mich wie ein Fluss. Aber ich liebe dich so, wie eine Frau einen Mann liebt.«
    Hilal will nicht sterben, sonst hätte sie geschwiegen. Was mir ihre Stimme aber noch verrät, ist: >Du bist ein Teil von mir, der wichtigste, der zurückbleibt. Ich werde nie mehr diejenige sein, die ich einmal war.< Sie irrt sich, aber jetzt ist nicht der geeignete Moment, ihr etwas zu erklären, das sie ohnehin nicht begreifen wird.
    »Und ich liebe dich, so wie ein Mann eine Frau liebt. So wie ich dich zuvor geliebt habe und immer weiter lieben werde. Wie off muss ich es dir noch erklären? Die Zeit vergeht nicht.«
    Sie dreht sich zu mir um.
    »Das stimmt nicht. Das Leben ist ein Traum, aus dem wir in dem Augenblick erwachen, in dem wir sterben. Die Zeit vergeht, während wir leben. Ich bin Musikerin. Ohne Zeit gäbe es keine Musik.«
    Sie redet wieder etwas ruhiger. Ich liebe sie. Nicht so, wie sie es sich wünscht, aber dennoch liebe ich sie.
    »Die Musik ist keine Abfolge von Noten einer bestimmten Länge. Sie ist der sich von einer Note zur nächsten vollziehende Wechsel von Klang und Stille«, versuche ich ihr zu widersprechen.
    »Was weißt du schon von Musik? Selbst wenn du recht hättest, was hat das schon zu bedeuten? Du bist ein Gefangener deiner Vergangenheit, und ich bin es auch! Wenn ich dich in einem Leben geliebt habe, werde ich niemals aufhören, dich zu lieben! Ich habe kein Herz, keinen Körper, keine Seele mehr, nichts! Ich habe nur noch meine Liebe. Du glaubst, es gibt mich, aber das ist eine Illusion! Was du vor dir siehst, ist Liebe in ihrer reinsten Form, die sich so sehr nach Entfaltung sehnt, wozu es für sie aber weder Zeit noch Raum gibt.«
    Hilal tritt vom Fenster zurück und beginnt im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie hat ganz offensichtlich nicht mehr die Absicht, sich umzubringen. Neben ihren Schritten auf dem Holzboden höre ich nur das laute Ticken einer Uhr, der unleugbare Beweis, dass es >die Zeit< durchaus gibt und dass sie gerade dabei ist, uns zu verschlingen. Wäre doch nur Yao hier! Er könnte mir helfen, Hilal zu beruhigen. Der arme Mann mit dem einsamen Herzen, der sich immer gut fühlt, wenn er etwas für andere tun kann.
    »Geh zu deiner Frau zurück! Geh zu der zurück, die in guten wie in schlechten Zeiten an deiner Seite war! Sie ist großzügig, zärtlich, tolerant. Ich bin alles, was du verabscheust: kompliziert, aggressiv, besessen, zu allem fähig!«
    »Welches Recht hast du, von meiner Frau zu sprechen?«
    Wieder einmal habe ich die Situation nicht mehr im Griff.
    »Ich kann sagen, was ich will! Du hast mich nie beherrschen können.«
    Ruhe. Rede weiter, und sie wird sich beruhigen. Noch nie habe ich jemanden so außer sich erlebt.
    »Sei froh, dass niemand dich beherrschen kann. Freue dich darüber, dass du den Mut hattest, deine Karriere riskiert hast, um ein Abenteuer zu suchen und zu finden. Vergiss nicht, was ich im Boot gesagt habe: Jemand wird das heilige Feuer für dich anzünden. Von nun an werden es nicht mehr nur deine Hände sein, die musizieren, sondern auch die der Engel. Lass zu, dass Gott sich deiner Hände bedient. Die Bitterkeit wird früher oder später vergehen, und jemand, den das Schicksal dir geschickt hat, wird schließlich mit einem Strauß voller Glück in den Händen kommen, und alles wird gut. Glaub mir, auch wenn du jetzt gerade völlig verzweifelt bist. Ich lüge nicht.«
    Zu spät.
    Ich habe genau das Falsche gesagt, nämlich im Klartext: >Mädchen, werde erwachsen.< Keine Frau, die ich kenne, hätte mit dieser Art Zuspruch etwas anfangen können.
    Hilal packt eine schwere Metalllampe, reißt das Kabel aus der Steckdose und schleudert sie in meine
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