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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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würden wir uns gleich küssen. Ein fernes Licht, eine einzelne Lampe auf einem anderen Bahnsteig, spiegelt sich in ihren Augen.
    Und obwohl die Dunkelheit um uns fast vollkommen ist, sind sie und ich in der Lage zu sehen. Denn hier befindet sich das Aleph. Die Zeit ändert ihre Frequenz, wir geraten mit ungeheurer Geschwindigkeit in einen dunklen Tunnel - diesmal weiß sie, was geschehen wird, und wird nicht erschrecken.
    »Nimm meine Hand, wir werden beide zusammen in die andere Welt gehen, jetzt!«
    Es erscheinen Kamele und Wüsten, Regen und Wind, ein Brunnen in einem Dorf in den Pyrenäen und der Wasserfall beim Kloster Piedra, die Küsten Irlands, eine Straßenecke, die so aussieht, als läge sie in London; wir sehen Frauen auf Motorrädern, einen Propheten vor dem Fünften Berg, die Kathedrale von Santiago de Compostela, Prostituierte, die in Genf auf Freier warten; wir sehen auch Hexen, die nackt um ein Feuer tanzen, einen Mann, der gleich seine Frau und ihren Liebhaber mit dem Revolver erschießen wird, und eine Steppe in einem asiatischen Land, in der eine Frau, während sie auf die Rückkehr ihres Mannes wartet, schöne Teppiche webt; und schließlich Irre in einem psychiatrischen Krankenhaus, die Weltmeere mit all ihren Fischen und das Universum mit jedem einzelnen Stern. Wir hören auch den ersten Schrei eines Kindes unmittelbar nach seiner Geburt, das letzte Stöhnen eines alten Menschen kurz vor dem Sterben, wir hören Autos bremsen, Frauen singen, Männer fluchen, und Türen über Türen schlagen.
    Ich gehe in all meine vergangenen und zukünftigen Leben und auch in das Leben, das ich jetzt lebe. Ich bin ein Mann mit einer Frau in einem Zug, ein Schriftsteller des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Frankreich, bin die vielen, die ich einmal war und sein werde. Hilal und ich gehen Hand in Hand durch die Tür, in die ich eintreten will. Und plötzlich ist ihre Hand verschwunden.
    Und ich befinde mich inmitten einer nach Bier und Wein stinkenden, grölenden Menschenmenge.

Ich höre Frauenstimmen, die nach mir rufen. Ich schäme mich, will ihnen nicht ins Gesicht sehen, aber sie rufen immer weiter. Die Leute neben mir beglückwünschen mich: Ich sei doch derjenige, der die Stadt vor Gottlosigkeit und Sünde bewahrt hätte. Die Stimmen rufen weiter meinen Namen.
    Aber ich bin an jenem Tag für den Rest meines Lebens feige genug gewesen. Langsam hebe ich den Kopf.
    Der Ochsenkarren ist schon fast vorbei, noch eine Sekunde, und das Rufen würde endlich aufhören. Aber ich schaue hoch und sehe sie an. Trotz aller Erniedrigungen, die sie durchmachen mussten, wirken sie ruhig, gereift, als wären sie inzwischen erwachsen, hätten geheiratet, Kinder bekommen und würden nun langsam dem Tod entgegengehen, dem Schicksal aller Menschen. Sie haben gekämpft, so lange sie konnten, aber irgendwann begriffen, dass sie ihr Schicksal annehmen mussten, dass es schon geschrieben stand, bevor sie geboren wurden. Denn nur zwei Dinge können die großen Geheimnisse des Lebens offenbaren: das Leid und die Liebe. Sie haben beides erlebt.
    Und Liebe sehe ich auch in ihren Augen. Wir haben als Kinder zusammen gespielt und davon geträumt, dass wir Edelleute sind und Prinzessinnen, haben Pläne für die Zukunft geschmiedet wie alle Kinder. Das Leben hat uns unterschiedliche Wege gehen lassen. Ich hatte den gewählt, Gott zu dienen, sie gingen einen anderen.
    Ich bin neunzehn Jahre alt, nur wenig älter als die Mädchen, die mich nun dankbar anschauen, weil ich den Kopf gehoben habe. Aber auf meiner Seele liegt eine große Last, eine große Schuld, weil ich aufgrund eines absurden Gehorsams nicht den Mut aufbrachte, nein zu sagen. Eines Gehorsams, den ich gern für wahr und folgerichtig gehalten hätte.
    Die jungen Mädchen schauen mich an, und diese Sekunde scheint eine Ewigkeit zu dauern. Eines der Mädchen ruft meinen Namen. Leise formen meine Lippen, so dass nur sie es hören können:
    »Vergebt mir!«
    »Das ist nicht mehr nötig«, kommt es als Antwort. »Wir haben mit den Geistern gesprochen. Sie haben uns enthüllt, was geschehen wird. Die Zeit der Angst ist vorüber, jetzt wird es nur noch Hoffnung geben. Sind wir schuldig? Eines Tages wird die Welt uns richten, und die Schande wird nicht unsere sein.
    Wir werden uns in der Zukunft wiederbegegnen, wenn dein ganzes Leben und deine ganze Arbeit denen gewidmet ist, die heute so schmerzlich missverstanden sind. Deine Stimme wird laut ertönen, und viele werden dich
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