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Aleph

Aleph

Titel: Aleph
Autoren: Paulo Coelho
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Deiner gedenken, wenn es mir schwerfällt, zu sagen, dass ich Dich liebe.
    Normalerweise würde ich in einem solchen Moment sekundenlang jene Präsenz spüren, die Sonne und Erde bewegt und die Sterne an ihrem Platz hält. Aber heute möchte ich nicht mit dem Universum sprechen; heute möchte ich nur, dass der Mann an meiner Seite mir die Antworten gibt, die ich brauche.
     
    ***
     
    J. nimmt die Hände vom Stamm der Eiche, und ich tue es auch. Er lächelt mich an, und ich erwidere sein Lächeln. Wir gehen schweigend und ohne Hast zu meinem Haus, setzen uns auf die Veranda und trinken einen Kaffee, immer noch schweigend.
    Ich betrachte den riesigen Baum in der Mitte meines Gartens, um dessen Stamm ich aufgrund eines Traums ein Band gewunden habe. Wir befinden uns im Dorf Saint-Martin in den französischen Pyrenäen in einem Haus, dessen Kauf ich inzwischen bereue; da nicht ich das Haus, sondern das Haus mich besitzt. Es fordert meine Anwesenheit, wann immer möglich, denn damit es seine Energie bewahrt, muss sich jemand darum kümmern.
    »Es gelingt mir nicht mehr, mich weiterzuentwickeln«, sage ich zu J. und bin damit wie immer in die Falle getappt, stets als Erster das Wort ergreifen zu müssen. »Ich glaube, ich bin an meine Grenzen gelangt.«
    »Seltsam. Ich habe mein Leben lang versucht herauszufinden, wo meine Grenzen sind, und habe sie bis heute nicht erreicht. Und dabei erweitert sich mein Horizont auch noch ständig und ist mir ganz und gar nicht dabei behilflich, mein persönliches Universum ganz kennenzulernen«, provoziert mich J.
    Das war ironisch gemeint, aber ich fahre unbeeindruckt fort.
    »Warum bist du heute hier? Du versuchst mich wie immer davon zu überzeugen, dass ich mich irre. Du kannst sagen, was du willst, aber Worte werden daran nichts ändern: Ich bin nicht glücklich.«
    »Genau deswegen bin ich gekommen. Ich spüre das schon eine ganze Weile. Aber man muss den richtigen Augenblick zum Handeln abwarten«, sagt J., nimmt eine Birne vom Tisch und betrachtet sie von allen Seiten. »Hätten wir eher miteinander geredet, wärest du noch nicht reif dafür gewesen. Würden wir später reden, wärest du inzwischen verdorben.«
    Er beißt in die Frucht. »Genau der richtige Zeitpunkt«, sagt er genießerisch.
    Ich lasse nicht locker: »Ich habe viele Zweifel. Besonders an meinem Glauben.«
    »Großartig. Der Zweifel treibt den Menschen an.«
    Wie immer die passenden Antworten, die passenden Bilder, aber heute verfehlen sie ihre Wirkung.
    »Ich werde dir sagen, was du fühlst«, fährt J. fort. »Dass alles, was du gelernt hast, keine Wurzeln geschlagen hat, dass du zwar imstande bist, in das magische Universum einzutauchen, es dir aber nicht gelingt, dort zu verweilen. Dass dies alles möglicherweise nichts weiter als eine einzige Illusion ist, geschaffen vom Menschen, um sich der Angst vor dem Tode zu erwehren.«
    Doch es ist schlimmer als das: Ich zweifle an meinem Glauben. Alles, was ich sicher weiß, ist, dass es ein paralleles spirituelles Universum gibt, das an die Welt, in der wir leben, anschließt. Der ganze Rest - heilige Bücher, spirituelle Führer, Handbücher, Zeremonien -, all das kommt mir absurd vor. Und, was noch schlimmer ist, sie scheinen keine bleibende Wirkung zu haben.
    »Ich werde dir erzählen, wie es mir ergangen ist«, fährt J. fort. »Als junger Mann war ich von all den Dingen, die das Leben zu bieten hatte, vollkommen geblendet und habe gedacht, ich müsste nur danach greifen. Nach meiner Hochzeit musste ich mich für einen einzigen Weg entscheiden, um meine Frau, die ich liebe, und meine Kinder zu versorgen. Mit fünfundvierzig war ich ein sehr erfolgreicher Manager, die Kinder erwachsen und aus dem Haus, und ich hatte das Gefühl, als würde von nun an alles nur noch eine Wiederholung dessen sein, was ich bereits erlebt hatte.
    Da begann meine spirituelle Suche. Ich bin ein disziplinierter Mensch und habe all meine Kraft darauf verwendet. Es gab Zeiten, da war ich voller Begeisterung, und Zeiten, in denen mich der Glaube verließ, und irgendwann kam ich an den Punkt, an dem ich mich so fühlte wie du heute.«
    »Ja, trotz all meiner Bemühungen kann ich nicht behaupten, dass ich Gott und mir selber näher gekommen wäre«, sage ich mit kaum verhohlener Bitterkeit.
    »Das kommt daher, dass du wie alle anderen Menschen auf diesem Planeten glaubst, die Zeit würde dich lehren, wie du dich Gott nähern kannst. Aber die Zeit lehrt nichts; sie bewirkt nur, dass wir uns
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