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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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menschliche Stimmen und eine Wettervorhersage im Radio unterscheiden. Und das Schnappen eines Toasters. Unaufhaltsam durchflutet die verschwenderische Helle des Morgenlichts jeden Winkel der Welt. In dem schmalen Bett eng aneinander geschmiegt, liegen die beiden jugendlichen Schwestern in ruhigem Schlaf Gewiss weiß davon niemand außer uns.
    06:43 Uhr
    Im »Seven-Eleven«-Supermarkt. Der Angestellte hockt mit einer Checkliste in der Hand im Gang und überprüft die Warenvorräte. Japanischer Hip-Hop spielt. Es ist derselbe junge Mann von der Kasse, bei dem Takahashi kurz zuvor bezahlt hat. Er ist schlank und hat braunes Haar. Die Nachtschicht scheint ihn erschöpft zu haben, denn mehrmals gähnt er ausgiebig. Durch die Musik läutet irgendwo ein Handy. Er steht auf, schaut sich um und wirft einen Blick in jeden einzelnen Gang. Kein Kunde zu sehen. Außer ihm ist niemand im Laden. Dennoch klingelt es unentwegt und hartnäckig weiter. Sonderbar. Nach einigem Suchen findet er die Ursache endlich im Käsefach des Kühlregals. Ein liegen gelassenes Mobiltelefon.
    Hat da doch tatsächlich jemand sein Handy im Käseregal vergessen. Der hat ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Junge schnalzt mit der Zunge, greift mit angewidertem Gesicht nach dem eiskalten Gerät und drückt die Antworttaste.
    »Hallo?«, sagt er.
    »Du denkst wohl, du hast uns abgehängt!«, sagt eine monotone Männerstimme.
    »Hallo!«, wiederholt der Angestellte.
    »Aber du entkommst uns nicht. Wohin du auch gehst!« Eine kurze, aber vielsagende Stille, dann wird aufgelegt.
    06:50 Uhr
    Von hoch oben blicken wir auf die riesige Landschaft der erwachenden Großstadt. Verschiedenfarbige Pendlerzüge transportieren zahllose Menschen in alle nur erdenklichen Richtungen, von einem Ort zum anderen. Jeder von ihnen ist namenloser Teil dieser Masse. Zugleich besitzt er ein eigenes Gesicht und eine eigene Psyche. Er ist gleichzeitig das Ganze und nur ein Teil davon. In routinierter und effizienter Anpassung an diese Doppelexistenz erledigt man akkurat und flink die morgendlichen Verrichtungen. Zähne putzen, Haare kämmen, Krawatte auswählen, Lippenstift auflegen. Kurz Nachrichten sehen, ein paar Worte mit der Familie wechseln, essen und zur Toilette gehen.
    Auf Nahrungssuche kreisen seit dem Sonnenaufgang Schwärme von Krähen über der Stadt. Ihr tiefschwarzes Federkleid glänzt fettig im Sonnenschein. Die Doppelexistenz scheint für Krähen kein so schwerwiegendes Problem zu sein wie für Menschen. Die für ihren Selbsterhalt notwendige Nahrungsbeschaffung ist das oberste Ziel der Vögel. Die Müllabfuhr hat noch nicht allen Abfall beseitigt, denn eine so gewaltige Stadt produziert ungeheure Mengen von Müll. Kreischend und jederzeit zum Sturzflug bereit kreisen die Krähen über allen Stadtteilen.
    Die neue Sonne übergießt die Stadt mit neuem Licht. Blendend hell glitzern die Glasfronten der Hochhäuser. Nicht eine Wolke steht am Himmel. Nicht der winzigste Wolkenfetzen ist zu entdecken. Nur über dem Horizont liegt eine dichte Smogschicht. Die Mondsichel schwebt als weißes, stilles Gestein und längst verlorene Botschaft am westlichen Himmel. Ein Verkehrshelikopter surrt wie ein nervöses Insekt durch die Luft und schickt Bilder von Straßenstaus an die Fernsehsender. An den Mautstationen der Stadtautobahn kommt es stadteinwärts bereits zu Behinderungen. Die zahllosen Straßen zwischen den Gebäuden der Stadt bieten noch ein ruhiges Bild. Unberührt verharrt dort ein großer Teil der Erinnerungen an die Nacht.
    06:52 Uhr
    Wir lösen unseren Blick vom Panorama der Stadt und wechseln zu einem ruhigen Wohngebiet in der Vorstadt. Unter uns reihen sich nun einstöckige Häuschen mit Gärten, die von oben beinahe alle gleich aussehen. Gleiches Jahreseinkommen, gleiche Familienstruktur. Dunkelblaue neue Volvos reflektieren stolz das Sonnenlicht. Auf den Rasenflächen in den Gärten sind Netze für Golfübungen gespannt. Gerade werden die Morgenzeitungen geliefert. Menschen führen ihre großen Hunde aus, und aus den Küchenfenstern hört man Frühstücksgeräusche. Dazu rufende Stimmen. Auch hier beginnt gerade der neue Tag. Vielleicht wird es ein Tag wie jeder andere, vielleicht einer, der in mancher Hinsicht als denkwürdig im Gedächtnis bleiben wird. Gleichwohl ist er im Augenblick für alle noch ein unbeschriebenes weißes Blatt.
    Wir wählen unter den identisch wirkenden Häusern eines aus und schauen geradewegs darauf hinunter. Durch ein
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