Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
Verstand nimmt diese Abstufungen wahr und versteht sie. Und um zu einem gesunden Verstand zu kommen, braucht man viel Zeit und Mühe. Ich finde dich nicht zu ernst.«
    Mari denkt darüber nach. »Aber ich bin ängstlich.«
    »Ach was! Ein ängstliches Mädchen würde doch nicht nachts allein durch die Stadt gehen. Du hast hier etwas gesucht - stimmt's?«
    »Hier?«, fragt Mari.
    »An einem anderen Ort als gewöhnlich. Soll heißen, außerhalb deines Territoriums.«
    »Und was habe ich gefunden? Hier?«
    Lächelnd sieht Takahashi ihr ins Gesicht.
    »Zumindest möchte ich mich mit dir treffen und mit dir reden. Das wünsche ich mir.«
    Mari schaut ihn an. Ihre Blicke begegnen sich. »Das könnte schwierig werden«, sagt sie. »Schwierig?«
    »Ja.«
    »Heißt das, du kannst dich nicht mehr mit mir treffen?«
    »Faktisch ja«, sagt Mari.
    »Bist du mit jemandem zusammen?«
    »Im Moment nicht.«
    »Dann hast du nichts für mich übrig?«
    Mari schüttelt den Kopf. »Daran liegt es nicht. Ich bin ab Montag nicht mehr in Japan. Ich gehe vorläufig bis nächsten Juni als Austauschstudentin in Beijing auf die Universität.«
    »Ach so«, sagt Takahashi beeindruckt. »Du bist eine Spitzenstudentin.«
    »Ach, ich hatte mich einfach angemeldet, auch auf die Gefahr hin abgelehnt zu werden. Ich dachte, es wäre aussichtslos, weil ich noch Erstsemester bin, aber es scheint da ein besonderes Programm zu geben.«
    »Klasse! Herzlichen Glückwunsch.«
    »Bis zu meiner Abreise sind es nur noch ein paar Tage, und ich muss noch so viel vorbereiten.«
    »Natürlich.«
    »Natürlich was?«
    »Dass du deine Reise nach Beijing vorbereiten musst und zu viel zu tun hast, um dich mit mir zu treuen«, sagt Takahashi. »Das verstehe ich gut. Kein Problem, macht nichts. Denn ich werde warten.«
    »Aber ich komme doch über ein halbes Jahr nicht nach Japan zurück.«
    »Ich habe ziemlich viel Geduld. Und ich bin verhältnismäßig gut im Zeittotschlagen. Könntest du mir nicht deine Adresse in China geben? Ich würde dir gern schreiben.«
    »Das wäre schön.«
    »Schreibst du mir zurück?«
    Mhm.«
    »Und wenn du nächstes Jahr zurückkommst, machen wir ein Date aus. Wir gehen in den Zoo, in den Botanischen Garten oder in ein Aquarium, und danach essen wir möglichst politisch korrekte, wohlschmeckende Omelettes.«
    Mari sieht Takahashi noch einmal an. Sie sieht ihm forschend in die Augen.
    »Aber wieso interessierst du dich für mich?«
    »Tja, warum? Das kann ich im Moment auch nicht erklären. Während ich dich sehe und mit dir rede, ertönt irgendwoher beiläufig Musik von Francis Lai und führt eine Menge konkreter Gründe an, warum ich Interesse an dir habe. Und vielleicht wird es ja sogar wunderschön schneien.«
    Als sie am Bahnhof ankommen, zieht Mari ein kleines rotes Notizbuch aus der Tasche, schreibt ihre Adresse in Beijing hinein, reißt das Blatt heraus und gibt es Takahashi. Er faltet es und steckt es in seine Brieftasche.
    »Danke. Ich schreibe dir lange Briefe«, sagt er.
    Mari bleibt vor der Fahrkartensperre stehen und überlegt. Sie zögert, ihre Gedanken auszusprechen.
    Schließlich fasst sie sich ein Herz. »Mir ist vorhin etwas über Eri eingefallen. Ich hatte es die ganze Zeit vergessen, aber nachdem du angerufen hast und als ich in dem Hotel im Sessel gesessen und so vor mich hingeschaut habe, da wusste ich es plötzlich wieder, ganz unerwartet. Kann ich dir das jetzt hier erzählen?«
    »Klar.«
    »Solange ich mich noch so deutlich daran erinnern kann, möchte ich vorsichtshalber jemandem davon erzählen«, sagt Mari. »Denn ich habe das Gefühl, dass mir die Einzelheiten vielleicht verloren gehen.«
    Takahashi legt eine Hand ans Ohr zum Zeichen, dass er die Ohren spitzt.
    »Als ich noch im Kindergarten war«, beginnt sie, »waren Eri und ich mal allein im Fahrstuhl unseres Hauses eingeschlossen. Vielleicht hatte es ein Erdbeben gegeben. Der Fahrstuhl schwankte wie verrückt und blieb dann plötzlich zwischen den Stockwerken stehen. Gleichzeitig ging das Licht aus, und es wurde dunkel. Wirklich stockfinster. Man sah die Hand nicht vor den Augen. Außer uns beiden war niemand in dem Aufzug. Vor Panik war ich wie erstarrt. Als hätte ich mich in einen lebendigen Stein verwandelt. Ich konnte keinen Finger rühren, bekam keine Luft und brachte keinen Ton heraus. Eri rief meinen Namen, aber ich konnte nicht antworten. Ich war wie betäubt, wie gelähmt im Kopf, und ich hörte Eris Stimme nur wie durch einen Spalt ... «
    Mari
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher