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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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ein ekliges Gefühl, als hätte er eine Schlange in der Hand gehalten.
    Takahashi vermutet, dass jemand aus irgendeinem Grund von mehreren Leuten verfolgt wird. Aus der entschlossenen Redeweise des Anrufers zu schließen, hat dieser Jemand kaum eine Chance zu entkommen. Irgendwann, irgendwo, wenn er nicht damit rechnete, würden sie ihn von hinten kalt erwischen. Würde danach noch etwas geschehen?
    In jedem Fall hat es nichts mit ihm zu tun, versucht Takahashi sich zu beruhigen. Vielleicht geht es um eine blutige Gewalttat, die unbemerkt auf der dunklen Seite der Stadt geschehen ist. Etwas, das ihm über einen anderen Schaltkreis aus einer anderen Welt übermittelt wurde. Er selbst ist nicht mehr als ein Passant, der sich aus Gutmütigkeit eines klingelnden Handys in einem Supermarktregal erbarmt hat, weil er dachte, jemand habe es vergessen und rufe nun an, um zu erfahren, wo.
    Takahashi klappt das Handy zu und legt es zurück. Neben die Schachteln mit dem Camembert. Am besten lässt er die Finger davon, wird es so schnell wie möglich los und entfernt sich von seinem gefährlichen Schaltkreis. Rasch geht er zur Kasse, nimmt eine Hand voll Kleingeld aus der Tasche und bezahlt das Sandwich und die Milch.
    05:24 Uhr
    Takahashi, allein auf einer Parkbank, wieder in dem kleinen Park mit den Katzen. Außer ihm ist niemand da. Zwei Schaukeln, laubbedeckter Boden. Der Mond steht am Himmel. Er nimmt sein Handy aus der Tasche und drückt eine Nummer.
    Der Raum im Hotel »Alphaville«, in dem Mari schläft. Das Telefon läutet. Nach vier- oder fünfmaligem Klingeln wacht sie auf Sie verzieht das Gesicht und sieht auf ihre Armbanduhr. Sie rappelt sich aus dem Sessel auf und nimmt ab.
    »Hallo«, sagt Mari mit unsicherer Stimme.
    »Hallo, ich bin's. Hast du geschlafen?«
    »Ein bisschen.« Sie deckt den Hörer mit der Hand ab und räuspert sich. »Macht aber nichts. Bin nur ein bisschen im Sessel eingedöst.«
    »Wenn du willst, können wir jetzt frühstücken gehen. In das Lokal mit den ausgezeichneten Omelettes. Bestimmt haben sie außer den Omelettes auch noch andere gute Sachen.«
    »Ist deine Probe schon zu Ende?«, fragt Mari. Sie findet, ihre Stimme hört sich irgendwie gar nicht wie ihre Stimme an. Ich bin ich und doch nicht ich.
    »Ja. Ich hab Kohldampf. Und du?«
    »Eigentlich gar nicht. Ich will lieber nach Hause.«
    »In Ordnung. Ich bringe dich jedenfalls zur Bahn. Ich glaube, die ersten Bahnen fahren schon wieder.«
    »Von hier bis zur Haltestelle kann ich doch allein gehen.«
    »Wenn möglich, würde ich gern noch ein bisschen mit dir reden«, sagt Takahashi. »Auf dem Weg zum Bahnhof könnten wir uns unterhalten. Wenn's dir nichts ausmacht.«
    »Überhaupt nicht.«
    »Ich hole dich in zehn Minuten ab, ja?«
    »Gut«, erwidert Mari.
    Takahashi beendet das Gespräch, klappt sein Handy zu und steckt es in die Tasche. Er steht von der Bank auf, streckt sich und sieht zum Himmel auf. Er ist noch dunkel. Wie vorhin steht dort die Sichel des drei Tage alten Mondes. Wenn man kurz vor dem Morgengrauen in der Stadt dort hinaufschaut, erscheint es einem seltsam, dass ein so großes Objekt völlig kostenlos da am Himmel steht.
    »Du entkommst uns nicht«, sagt Takahashi, während er zur Mondsichel hinaufschaut.
    Der rätselhafte Klang dieser Worte bleibt als eine Metapher in ihm haften. Du entkommst uns nicht. Du vergisst vielleicht, wir vergessen nie, hatte der Mann am Telefon gesagt. Als er über den Sinn dieser Worte nachdenkt, kommt es ihm immer mehr so vor, als wäre diese Botschaft nicht an einen anderen gerichtet, sondern an ihn persönlich. Möglicherweise war das kein Zufall gewesen. Vielleicht hatte das Handy sich in aller Ruhe in dem Supermarktregal versteckt gehalten und darauf gewartet, dass Takahashi vorbeikäme. Wir. Wer waren überhaupt Wir? Und was würden sie nicht vergessen?
    Takahashi schultert seinen Posaunenkoffer und seinen Beutel und macht sich mit langsamen Schritten in Richtung »Alphaville« auf. Im Gehen streicht er sich das lange Haar aus der Stirn. Wie ein dünner Film liegt die letzte Dunkelheit der Nacht über der Stadt. In den Straßen beginnt die Müllabfuhr mit ihrer Arbeit. Sie löst die Menschen ab, die in der Stadt die Nacht verbummelt haben und sich jetzt in Richtung der Bahnhöfe aufmachen. Wie Fischschwärme streben sie alle den ersten Bahnen zu. Menschen, deren Nachtschicht endlich vorüber ist, oder junge Leute, von ihren nächtlichen Ausschweifungen erschöpft - die meisten,
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