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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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schließt kurz die Augen, um sich die Dunkelheit zu vergegenwärtigen.
    »Ich weiß nicht mehr, wie lange es so dunkel blieb«, fährt sie fort. »Es kam mir unheimlich lange vor, aber wahrscheinlich war es das in Wirklichkeit gar nicht. Wie lange es tatsächlich dauerte - fünf Minuten oder zwanzig -, das war nicht das Entscheidende. Jedenfalls hat Eri mich dort in der Dunkelheit in die Arme genommen. Es war keine gewöhnliche Umarmung. Sie war so fest, als wären unsere beiden Körper zu einem verschmolzen, und sie hat diese feste Umarmung keinen Augenblick lang gelockert. Als würden wir uns, wenn sie losließe, auf dieser Welt nie wieder sehen.«
    An die Fahrkartensperre gelehnt, steht Takahashi schweigend da und wartet darauf, dass Mari weiterspricht. Sie zieht die rechte Hand aus der Tasche ihrer Stadionjacke und betrachtet sie einen Moment. Dann schaut sie auf und erzählt weiter.
    »Bestimmt hatte Eri selbst große Angst. Vielleicht fürchtete sie sich sogar genauso wie ich und hätte am liebsten laut geweint und geschrieen. Sie war ja auch erst in der zweiten Klasse. Aber sie bewahrte Ruhe. Vielleicht hat sie damals beschlossen, für mich stark zu sein, weil sie die Altere war. >Ist schon gut. Hab keine Angst. Ich bin ja bei dir. Bestimmt kommt uns gleich jemand zu Hilfe<, hat sie mir die ganze Zeit ins Ohr geflüstert. Ihre Stimme war ganz gefasst, wie die eines Erwachsenen. Ich weiß nicht mehr, welches Lied es war, aber sie hat mir sogar etwas vorgesungen. Ich wollte mitsingen, aber ich konnte nicht. Damals habe ich mich Eris Armen ganz anvertraut. Wir schafften es, in der Dunkelheit völlig eins zu werden. Sogar unsere Herzen schlugen wie eins. Plötzlich ging das Licht wieder an, und mit einem Ruck setzte sich der Aufzug in Bewegung.«
    Mari hält inne. Sie folgt ihrer Erinnerung und sucht nach Worten.
    »Aber das war das letzte Mal. Das war ... wie soll ich sagen ... der Augenblick, in dem ich Eri am nächsten war. Ein Augenblick, in dem wir verbunden waren und schrankenlos eins wurden. Mir ist, als hätten Eri und ich uns danach immer weiter voneinander entfernt. Wir haben uns daran gewöhnt und angefangen, in verschiedenen Welten zu leben. Diese Einheit, wie ich sie in diesem Fahrstuhl gespürt hatte, oder eine Verbindung unserer Herzen haben wir nie mehr erreicht. Ich weiß nicht, warum es nicht ging. Jedenfalls konnten wir nicht mehr zurück.«
    Takahashi streckt die Hand aus und ergreift die von Mari. Sie ist ein bisschen verdutzt, zieht aber ihre Hand nicht zurück. Lange hält Takahashi sie ruhig und zärtlich fest. Es ist eine kleine weiche Hand.
    »Eigentlich will ich nicht hin«, sagt Man. »Nach China?«
    »Ja.«
    »Warum nicht?«
    »Weil ich Angst habe.«
    »Natürlich hat man Angst, wenn man allein in ein fremdes Land geht«, sagt Takahashi.
    »Hm.«
    »Aber es wird dir gut gehen. Du schaffst es. Und ich warte hier, bis du zurückkommst.«
    Mari nickt.
    »Du bist sehr hübsch. Weißt du das?«
    Mari hebt den Kopf und sieht Takahashi an. Nun entzieht sie ihm ihre Hand und steckt sie in die Tasche ihrer Stadionjacke. Sie schaut zu Boden. Vergewissert sich, dass ihre gelben Turnschuhe nicht schmutzig sind.
    »Danke. Aber jetzt möchte ich nach Hause.«
    »Ich schreibe dir«, sagt Takahashi. »Lange Dinger, wie in alten Romanen.«
    »Mhm«, macht Mari.
    Sie schiebt ihre Karte in die Sperre, geht auf den Bahnsteig und verschwindet in dem wartenden Express. Takahashi sieht ihr nach. Kurz darauf ertönt das Abfahrtssignal, die Türen schließen sich, und der Zug fährt ab. Als er nicht mehr zu sehen ist, hängt sich Takahashi seinen Posaunenkoffer, den er auf dem Boden abgestellt hatte, über die Schulter und macht sich leise pfeifend auf den Weg zum JR-Bahnhof. Allmählich nimmt das Kommen und Gehen in der Station zu.

18
    06:40 Uhr
    Eri Asais Zimmer.
    Es wird heller vor dem Fenster. Eri Asai liegt im Bett und schläft. Ihr Ausdruck und ihre Haltung haben sich, seit wir sie zuletzt gesehen haben, nicht verändert. Sie ist in den dicken Mantel des Schlafs gehüllt.
    Mari betritt Eris Zimmer. Um ihre Eltern nicht zu wecken, öffnet sie die Tür sehr leise, schlüpft hinein und schließt sie ebenso leise. Die Stille und die Kühle im Zimmer beunruhigen sie. Sie bleibt an der Tür stehen und sieht sich im Zimmer ihrer Schwester wachsam um. Als Erstes vergewissert sie sich, dass alles ist wie immer. Aufmerksam prüft sie, ob nicht etwas Unbekanntes in einem Winkel lauert. Dann nähert sie sich dem
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