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Afterdark

Afterdark

Titel: Afterdark
Autoren: Haruki Murakami
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Szene wie die, als wir das erste Mal ins Zimmer sahen. Drückende Stille, augenscheinlich tiefer Schlaf. Es ist, als treibe Eri mit dem Gesicht nach oben auf einer spiegelglatten, gedachten Wasserfläche ohne jede Welle. Im Zimmer gibt es nicht die geringste Unordnung. Der Fernsehapparat ist kalt und erloschen, auf die Rückseite des Mondes zurückgekehrt. Aber wie ist sie aus jenem rätselhaften Raum entkommen? Haben die Türen sich geöffnet?
    Auf diese Frage weiß niemand eine Antwort. Dieses Fragezeichen ohne Antwort versinkt mit der letzten Dunkelheit der Nacht in der absoluten Stille. Wir können die Tatsache, dass Eri Asai in ihr Zimmer und in ihr Bett zurückgekehrt ist, kaum fassen. Soweit wir sehen, ist ihr die Heimkehr auf unsere Seite ohne Schwierigkeiten und ohne äußere Beschädigung gelungen. Gewiss konnte sie im letzten Augenblick durch eine Tür nach draußen entkommen. Oder sie hat einen anderen Ausgang gefunden. Jedenfalls scheint die Reihe der seltsamen Vorgänge, die während der Nacht in diesem Zimmer stattgefunden haben, ganz und gar beendet zu sein. Offenbar hat sich der Kreis geschlossen, das Außergewöhnliche ist spurenlos beseitigt, ein Mantel hat sich über das Chaos gelegt, und alles ist wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückgekehrt. Um uns her reichen sich Ursache und Wirkung die Hand, Synthese und Auflösung befinden sich im Gleichgewicht. Schließlich hat sich alles an einem unerreichbaren Ort, der einer tiefen Kluft gleicht, abgespielt. In der Zeit zwischen Mitternacht und den ersten hellen Streifen am Himmel tut sich die geheime, dunkle Pforte dieses Ortes auf, an dem unser rationales Denken außer Kraft gesetzt ist. Niemand kann voraussehen, wann und wo sein Abgrund einen Menschen verschlingen und wann und wo er ihn wieder ausspucken wird.
    Eri liegt jetzt wieder voll Anmut in ihrem Bett und schläft, als wäre nichts gewesen. Wie ein eleganter Fächer breitet ihr schwarzes Haar stumme Bedeutung über das Kissen. Es ist zu spüren, dass der Morgen naht. Die Zeit der tiefsten nächtlichen Dunkelheit ist überschritten.
    Aber ist es wirklich so?
    05:10 Uhr
    Im Seven Eleven. Seinen Posaunenkoffer über der Schulter, trifft Takahashi mit ernster Miene seine Lebensmittelauswahl. Damit er später etwas zu essen hat, wenn er in seinem Apartment aufwacht. Er ist der einzige Kunde. Aus dem Deckenlautsprecher ertönt Bakudan Juice von Sugashikao. Er entscheidet sich für ein Sandwich mit Thunfischsalat in einem Plastikbehälter.
    Dann nimmt er eine Tüte Milch und vergleicht das Datum mit dem auf anderen Tüten. Milch spielt eine bedeutende Rolle in seiner Ernährung, da erlaubt er sich nicht die geringste Nachlässigkeit.
    Genau in diesem Augenblick beginnt im Käseregal ein Handy zu klingeln. Es ist dasjenige, das Shirokawa kurz zuvor dort abgelegt hat. Takahashi verzieht das Gesicht und sieht perplex auf das kleine Telefon. Wie kann einer im Käseregal sein Handy vergessen? Er hält nach einem Angestellten an der Kasse Ausschau, aber niemand ist zu sehen. Das Telefon klingelt unablässig weiter. Achselzuckend nimmt er den kleinen silberfarbenen Apparat und drückt auf Empfang.
    »Hallo«, sagt Takahashi.
    »Du entkommst uns nicht«, sagt eine Männerstimme. »Wir kriegen dich, wohin du auch fliehst.«
    Die Sprechweise ist monoton, als läse der Mann einen gedruckten Text vor. Kein Gefühl wird transportiert. Natürlich hat Takahashi keine Ahnung, wovon der Mann redet.
    »Moment mal«, sagt er lauter.
    Aber seine Worte scheinen das Gegenüber nicht zu erreichen. Ohne zu reagieren spricht der Mann tonlos weiter. Wie eine Ansage auf einem Anrufbeantworter.
    »Wir kriegen dich am Arsch. Wir kennen dein Gesicht.«
    »Tja also, irgendwie ... «
    »Wenn dich hier irgendwo jemand am Arsch kriegt, sind wir das.«
    Da er darauf keine Antwort weiß, schweigt Takahashi. Das Telefon, das länger im Kühlregal gelegen hat, fühlt sich unangenehm kalt an.
    »Du vergisst vielleicht, wir vergessen nie.«
    »Also, ich weiß nicht, aber das ist eine Verwechslung ...«
    »Du entkommst uns nicht.«
    Das Gespräch wird unterbrochen. Takahashi starrt auf den Apparat in seiner Hand. Er hat keine Ahnung, wer die Leute sind, von denen der Mann als »wir« gesprochen hat, und wer und wo die Person ist, die den Anruf eigentlich bekommen sollte, aber die Stimme des Mannes hinterlässt in seinen Ohren (eines davon mit deformiertem Ohrläppchen) den schlechten Nachhall einer ungerechten Beschimpfung. Es ist
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