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Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl

Titel: Adrenalin - Iles, G: Adrenalin - The Devil's Punchbowl
Autoren: Greg Iles
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vorschlagen, denn er arbeitet auf einem der Casinoschiffe, der Magnolia Queen , die unterhalb des Jewish Hill vertäut ist, und seine Schicht endet um Mitternacht. Aber Tim sagte mir, es gehe ihm um die Abgeschiedenheit – nicht nur seinetwegen, auch meinetwegen. Außerdem nahm er mir das Versprechen ab, unter keinen Umständen bei ihm zu Hause anzurufen oder seine Handynummer zu wählen.
    In einem anderen Leben war ich Staatsanwalt. Ich habe sechzehn Menschen in die Todeszelle geschickt. Rückblickend bin ich mir nicht mehr sicher, wie das zustande kam. Jedenfalls wachte ich eines Tages auf und begriff, dass ich nicht von Gott auserkoren war, die Schuldigen zu richten. Also gab ich meinen Job bei der Bezirksstaatsanwaltschaft von Houston auf und kehrte zu meiner jüngeren Frau und meiner Tochter zurück. Weil ich nicht wusste, was ich mit meiner überschüssigen Zeit anfangen sollte (und wegen akuten Geldmangels), schrieb ich meine Erfahrungen vor Gericht nieder und habe – wie ein paar andere Juristen, die John Grishams Beispiel folgten – genug Bücher verkauft, dass mein Name auf den Bestsellerlisten erschien. Wir legten uns ein größeres Haus zu und schickten Annie auf eine Privatschule. Ein nie gekanntes Gefühl der Selbstzufriedenheit schlich sich in mein Leben ein – das Gefühl, zu den Erwählten zu gehören, denen auf jedem Gebiet Erfolg beschieden ist. Ich hatte eine beneidenswerte Laufbahn, eine wunderbare Familie, etliche gute Freunde und eine Menge treuer Leser. Und ich war jung und arrogant genug zu glauben, dies alles verdient zu haben und dass es nie enden würde.
    Dann starb meine Frau.
    Vier Monate nachdem mein Vater, ein Arzt, bei ihr Krebs diagnostiziert hatte, mussten wir sie beerdigen. Sarahs Tod hätte mich und meine vierjährige Tochter beinahe zerbrochen. In meiner Verzweiflung flohen wir aus Houston und kehrten zurück in diesen kleinen Ort in Mississippi, wo ich aufgewachsen bin, zurück in die liebevolle Umarmung meiner Eltern. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Annie ist mittlerweile elf und die Reinkarnation ihrer Mutter. Zurzeit schläft sie zu Hause, während eine Babysitterin in meinem Wohnzimmer sitzt.
    Ich schaue wieder auf die Uhr. Wo bleibt Tim Jessup? Ich gebe ihm noch fünf Minuten. Wenn er bis dahin nicht zu diesem mitternächtlichen Treffen erschienen ist, muss er halt wie jeder andere während der Öffnungszeiten zu mir ins Rathaus kommen.
    Mein Herz pocht, nachdem ich den Hang zum Jewish Hill hinaufgestiegen bin, doch mit jedem Atemzug wird mir der Duft der grünen Oliven zugetragen, die Mitte Oktober immer noch blühen. Darunter verbirgt sich ein Gemisch durchdringenderer Gerüche: Kudzu und feuchter Humus und irgendetwas Totes, Verwesendes zwischen den Bäumen.
    Als ich den Rand der Erdtafel erreiche, die den Jewish Hill bildet, fällt das Land mit atemberaubender Schroffheit vor mir ab. Bis zum Fluss geht es fast siebzig Meter steil eine Klippe aus windgepeitschtem Löß hinunter. Dieser üppige, fruchtbare Boden ist aus Fels entstanden, der von Gletschern fein gemahlen wurde. Aus dieser Höhe kann man mit fast berauschendem Stolz nach Westen über eine endlose Ebene blicken. Vielleicht war es dieses Gefühl, das viele Nationen veranlasst hat, unsere Gegend für sich zu beanspruchen. Frankreich, Spanien, England, die Konföderation – sie alle haben es versucht, und sie alle sind genauso gescheitert wie die Natchez-Indianer vor ihnen. Am westlichen Ende des Hügels steht eine Bank unter einer amerikanischen Flagge. Die Bank wartet auf Trauernde, Liebespaare und alle anderen, die hierherkommen. Sie ist der beste Platz, um Tims letzte vier Minuten abzuwarten.
    Als ich mich auf den Weg dorthin machen will, bewegt sich ein Paar Scheinwerfer die Cemetery Road hinauf wie die Lichter eines Schiffes, das gegen den Wind ankämpft. Bald darauf rattert ein unscheinbarer Pick-up an den billigen Häuschen auf der anderen Straßenseite vorbei, verschwindet hinter der nächsten Kurve und hält auf die Devil’s Punchbowl zu, eine tiefe Schlucht, wo Geächtete vom Natchez Trace, der alten Handelsstraße, einst die Leichen ihrer Opfer abluden.
    »Das war’s, Timmy«, sage ich laut. »Deine Zeit ist um.«
    Der Wind, der vom Fluss kommt, lässt mich frösteln. Ich bin erschöpft und reif fürs Bett. Ich gehe nach rechts auf einen Hang zu, wo mein alter Saab hinter der Friedhofsmauer geparkt ist. Als ich mich vorbeuge, um den Hügel hinunterzurutschen, wird die Stille von einem
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