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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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Kompromiss?
    Georg Simmel widmete vor hundert Jahren in seiner Soziologie dem Streit ein umfangreiches Kapitel. Und beginnt seine Überlegungen mit der nüchternen Einschätzung, dass ein »primäres Feindseligkeitsbedürfnis«, schlichter gesagt: »Hass und Neid, Not und Begier« die Treibstoffe sind, die jeden Streit befeuern. Simmel spricht nicht von profilneurotischen Zeitgenossen, bei deren Sozialisation etwas schiefgelaufen ist. Sondern erkennt, »dass der erste Instinkt, mit dem die Persönlichkeit sich bejaht, die Verneinung des anderen ist«. Man kann es auch freundlicher ausdrücken: Ohne dass ich mich von anderen Menschen, anderen Gedanken, anderen Weltanschauungen abgrenze, gelingt es mir nicht, eine eigene Identität auszubilden. Lange bevor ich weiß, was ich im Leben will, weiß ich, was ich nicht will.
    Selbstverständlich gibt es das gegenteilige Bedürfnis nach Gemeinschaft, das Bedürfnis, von den anderen geliebt oder zumindest »anerkannt« zu werden. Und selbstverständlich lassen sich prägnante Überzeugungen auch aus dem Bejahen heraus entwickeln, zeugt es von einem unreifen Charakter, sich sein Weltbild einzig und allein aus der Haltung des »So nicht!« zusammenzuzimmern. Wer jedoch das Ausgrenzen und Ausgegrenzt-Werden überhaupt nicht mehr erträgt, ist dazu verdammt, als unscharfer Geist durchs grenzenlose Harmonistan zu wandeln.
    Die neue Sehnsucht nach Harmonie lässt sich am besten am Verschwinden dessen ablesen, was man früher einmal den »Generationenkonflikt« nannte. War es noch bis in die späten 60er und frühen 70er Jahre hinein völlig normal, dass Kinder irgendwann im Laufe ihrer Pubertät mit den Eltern aufs Heftigste aneinandergerieten, scheint seit einer Weile der große Eltern-Kinder-Frieden eingezogen zu sein. »Sich die Hörner abstoßen«, nannte der Spießer vergangener Tage diesen Vorgang. Aus eigener Erfahrung würde ich sagen: Es ging eher darum, sich die Hörner zu schärfen. Und deshalb ist es weder paradox noch zynisch, wenn ich meinen Eltern dafür danke, dass sie mir damals einen Widerstand geboten haben, der uns zu teils krassen Auseinandersetzungen gezwungen hat.
    Ein Paradebeispiel für unsere Unfähigkeit, mit polemisch zugespitzten Attacken umzugehen, stellen die hysterischen Reaktionen dar, die es auf Thilo Sarrazins Äußerung gegeben hat, man müsse niemanden anerkennen, »der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert«. Man darf diese und ähnliche Aussagen, die Berlins ehemaliger Finanzsenator in dem skandalisierten Interview in Lettre International getätigt hat, gern als »türkenfeindlich« beurteilen. Aber kommen wir der Lösung der real existierenden Integrationsprobleme auch nur einen Trippelschritt näher, wenn wir reflexhaft darauf beharren, die Wirklichkeit einzig durch die Brille der politischen Korrektheit wahrzunehmen und entsprechend verquast zu beschreiben?
    Jeder türkische Einwanderer hat das Recht, sich durch Sarrazins Invektiven beleidigt zu fühlen. Aber so wie unsere Gesellschaft verfasst ist, hat er auch das Recht, Herrn Sarrazin in ebenso scharfen Worten darzulegen, wieso er sich irrt. Dies wäre eine Kultur, die den Namen »Streitkultur« verdient. Hingegen zu fordern, dass dem Querulanten am besten per Gerichtsbeschluss der Mund verboten wird, hat nichts mit einer zivilisatorischen Veredlung des Streitens zu tun, sondern ist das Ende einer jeglichen ernsthaften Streitmöglichkeit.
    Philosophen haben schon immer davon geträumt, dass ein Streiten möglich sein müsste, das sich nicht länger aus »Hass und Neid, Not und Begier« speist, sondern einzig und allein dem gemeinsamen Herausarbeiten der Wahrheit dienen will. In diesem Sinne grenzte Aristoteles die Dialektik – gemeint war der argumentative Disput unter Philosophen – von der bloßen Rhetorik ab, wie sie von Sophisten und anderen öffentlichen Rednern mit dem vorrangigen Ziel des Rechthabens praktiziert wurde.
    Wie schwer diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten ist, ließ sich erst unlängst wieder an jenem Streit ablesen, den Peter Sloterdijk und Axel Honneth in den Feuilletons von Frankfurter Allgemeine Zeitung und Die Zeit austrugen. Sloterdijk hatte einen Essay veröffentlicht, in dem er eine »Revolution der gebenden Hand« forderte, die herrschende sozialstaatliche »Kleptokratie« anprangerte und zum »fiskalischen Bürgerkrieg« aufrief. Drei Monate
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