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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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Mitbürgerin«, beendete die Kanzlerin das Schweigen, »wenn Sie so schlau sind, verraten Sie mir doch, wer >alle Deutschen‹ sind.«
    »Alle, denen dieses Land etwas bedeutet.«
    »Jetzt machen Sie mir nicht den Sarrazin. Für mich sind >alle Deutschen‹ erst einmal alle, die in Deutschland leben und die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.«
    »Das Gefühl einer nationalen Zugehörigkeit entsteht nicht in der Bundesdruckerei. Unlängst habe ich das Buch eines Mannes gelesen, der aus Ägypten stammt und mit dreiundzwanzig nach Deutschland gegangen ist. Er hatte die vage Vorstellung, ins Land von Schiller und Goethe zu kommen. Tatsächlich fand er sich im Land von Pendlerpauschale und Abwrackprämie wieder.«
    »Es wäre mir neu, dass zu Zeiten von Schiller und Goethe die deutschen Regierungschefs fürs kulturelle Niveau im Land verantwortlich waren. Und außerdem ist das doch ein Einzelfall, den Sie da zitieren. Ein höchst erfreulicher zwar. Aber fragen Sie mal diesen Gemüsehändler hier, ob er nach Deutschland gekommen ist, weil er ins Land von Schiller und Goethe wollte.«
    »Ich brauche gar nicht mit dem türkischen Gemüsehändler anzufangen. Ich frage den urdeutschen Schlosser, Lehrer, Beamten. Und stelle fest, dass es auch ihm immer weniger bedeutet, im Land von Schiller und Goethe zu leben.«
    »Liebe Mitbürgerin, das ist arrogant. Und außerdem stimmt es nicht. Neulich hatte ich ausnahmsweise mal Zeit, in eine dieser Ratesendungen hineinzuschauen. Da saß ein Verwaltungsangestellter, und der konnte sofort richtig zuordnen, wer >Die Bürgschaft‹ geschrieben hat.«
    »Liegt darin nicht das ganze Elend, verehrte Frau Bundeskanzlerin? Dass wir uns schon freuen, wenn einer überhaupt noch weiß, dass >Die Bürgschaft‹ nicht von Goethe stammt? Meinem Großvater ging das Herz auf, wenn er beim Holzhacken Schiller rezitierte. Oder Wagner sang.«
    »Ich fahre ja auch gern nach Bayreuth. Aber Sie meinen doch nicht ernsthaft, dass wir unsere Integrationsprobleme lösen, indem wir die Kinder in die Oper schicken?«
    »Warum nicht? Was bringt es, wenn wir so wie jetzt das Niveau permanent nach unten korrigieren – um bloß keinen zu überfordern oder auszugrenzen? Warum stellen Sie sich nicht hin und sagen: >Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bitte, strengen Sie sich an, geben Sie Ihr Bestes! All das, was dieses Land jemals an Liebens- und Bewundernswertem hervorgebracht hat, ist nur entstanden, weil Leute sich angestrengt haben. Als Einzelne. Und als Kollektiv. Es ist ein Armutszeugnis für uns alle, wenn sich die Gründe, dieses Land zu lieben, in der deutschen Sozialgesetzgebung erschöpfen.‹«
    »Bewerben Sie sich jetzt als Redenschreiberin?« Die Bundeskanzlerin kicherte.
    »Warum verschanzen Sie sich hinter einer Sprache, die so spröde und glanzlos ist, dass sie noch nicht einmal als Geschenkpapier taugt? Wie wollen Sie die Kanzlerin aller Deutschen werden, wenn keiner in diesem Land sagen kann, wer Sie sind? Die Haltlosigkeit, unter der wir leiden, ist die Zwillingsschwester der Haltungslosigkeit, mit der wir uns zu retten glauben.«
    Die Bundeskanzlerin legte ihre Fingerspitzen aneinander. »Liebe Mitbürgerin, ich denke, unsere Fahrt ist an dieser Stelle zu Ende. Warum warten Sie nicht einfach ab, was ich in meiner Neujahrsansprache sagen werde?«
    »Verehrte Frau Bundeskanzlerin, das werde ich tun. Und vielen Dank fürs Mitnehmen.«
    Ich stand auf der Straße und blickte mich um. Es war eine Gegend Berlins, in der ich noch nie gewesen war. In kleinen Vorgärten blinkten Rentiere und Schlitten. Ein paar junge Männer, die trotz der Kälte nichts auf dem Kopf trugen, stritten sich um eine Bierflasche. Ein Mann huschte aus seinem Fahrzeug, hielt die Aktentasche schützend über den Kopf und verschwand in einem der Reihenhäuser. Eine Mutter mit Kinderwagen schritt zügig an mir vorbei. Alle Deutschen . Ich setzte meine Kopfhörer auf und lauschte der Winterreise . Wenn ich Glück hatte, fand ich irgendwo eine S-Bahn.

Textnachweis
     
    »Das Beta-Tier«, erschienen in Die Literarische Welt am 08.01.2005
    »Leben unter Vorbehalt«, erschienen in Brigitte Nr. 12 am 21.05.2008
    »SOS Multikulti«, erschienen unter dem Titel »Allahs unwillige Töchter« in Die Literarische Welt am 21.05.2005
    »Die Rot-Grün-Blindheit«, erschienen unter dem Titel »Wieso sind die Schwarz-Gelben die Bösen?« in Die Welt am 06.09.2005
    »Gute Deutsche«, erschienen unter dem Titel »Wie gefährlich ist der deutsche
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