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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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in seiner kleinen Welt stabil bleiben, erscheint dem Zuschauer der Katastrophenhorizont mehr und mehr als flirrender Bühnenprospekt. Doch wenn er die überreizten Augen für einen Moment schließt, kommt die Angst, und er fleht nach Politikern, die versprechen, dass ihm in seiner Nussschale nichts zustoßen wird, ganz gleich, wie wild die Wogen draußen toben.
    Nervös gelähmt, starrt der Zuschauer auf die politischen Akteure und Aktricen, die ebenso nervös gelähmt agieren. Auch sie scheinen nicht mehr fest im Sattel der Wirklichkeit zu sitzen. Da verirrt sich ein prominentes Regierungsmitglied ins falsche Rollenfach, schwingt sich zum Anführer des Erregungschors auf, um spätrömische Zustände zu beklagen – und tut anderntags alles dafür, das selbst entfachte Strohfeuer wieder auszutreten. Dass der Preis dafür ein milliardenfach dekadenter Staatshaushalt ist – wen kümmert’s? Hauptsache, das Karussell dreht sich weiter.
    Der kleinmütigen Ratlosigkeit im konkreten Handeln entspricht der Größenwahn, wenn es ums vermeintlich Ganze geht. Dieselbe Regierung, die sich quälend schwer damit tut, eine vernünftige Gesundheitsreform durchzuführen, verkündet im nächsten Atemzug die »Rettung des Weltklimas« als angeblich ernst gemeintes politisches Ziel. Der Zuschauer, zwar längst skeptisch geworden, was die konkrete Gestaltungsfähigkeit der Regierenden angeht, spielt mit, weil er immer noch bereit ist, an den unrealistischsten Heilsplan zu glauben – solange dieser seine eigenen Ängste und Hoffnungen widerspiegelt. Und solange er mit glaubwürdigem Pathos vorgetragen wird.
    In der sogenannten »Informationsgesellschaft«, bei der es sich in Wahrheit um eine Gesellschaft handelt, in der keiner mehr weiß, welche Information er noch glauben und was er mit all den Informationen, die er sekündlich abrufen kann, anfangen soll, wird Glaubwürdigkeit zum letzten Fetisch. So gesehen verhält sich ein Verteidigungsminister nur konsequent, wenn er in erster Linie darum kämpft, seinen Ruf als Ritter von der aufrechten Gestalt wiederherzustellen. Denn seine Gegenspieler sind ebenfalls mehr damit befasst, herauszufinden, was er wann gewusst und warum verschwiegen hat, als die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, wie die Lage in Afghanistan tatsächlich aussieht und ob es noch sinnvolle Strategien für den verfahrenen Bundeswehreinsatz am Hindukusch geben kann. Glaubwürdigkeit verkommt zum Glaubwürdigkeitstheater.
    Auch jenseits der politischen Bühne hatten die meisten Skandale, die die deutsche Öffentlichkeit in letzter Zeit aufscheuchten, mit Glaubwürdigkeit und deren Verlust zu tun. Eine Autorin, deren Buch als Ausbund juveniler Authentizität gepriesen wurde, musste sich nachweisen lassen, dass sie die Exzesse, die sie beschreibt, wohl doch nicht gelebt, sondern lediglich von einem Kollegen abgeschrieben hat. Aktuell ringen die Kirchen, die traditionell als eine der letzten Bastionen der Glaubwürdigkeit galten, darum, ihr beflecktes Image zu reinigen. Verständlich ist der Zorn auf katholische Priester, die Zölibat predigen und Pädophilie leben. Verständlich war auch der Spott, der über einer evangelischen Bischöfin ausgegossen wurde, die in der Fastenzeit mit 1,54 Promille eine rote Ampel überfuhr.
    Grotesk allerdings war, was geschah, nachdem jene Bischöfin aus ihrem Fehler Konsequenzen gezogen und ihre hohen Ämter niedergelegt hatte. Die Öffentlichkeit reagierte betreten, als mache es ihr Angst, dass da eine wirklich gehandelt hat, anstatt sich mit einem publikumswirksamen Auftritt im Büßergewand aus der Affäre zu ziehen.
    Noch tiefer ging der öffentliche Schock, als es ein Nationaltorwart im vergangenen Herbst nicht mehr ertrug, der Welt vorzuspielen, alles sei in bester Ordnung, und mit seinem Selbstmord den letzten verzweifelten Schritt aus der Wirklichkeit hinaus tat. Das Publikum weinte fassungslos, als habe es ganz und gar vergessen, dass Tragödien anders enden können als damit, dass einer ein auflagenstarkes Buch über sein privates Unglück schreibt.
    Dem Leben lässt sich der Ernst, der bisweilen tödlich werden kann, nicht austreiben. Doch was fängt man an mit dieser Erkenntnis in Zeiten, in denen alle darauf bedacht sind, jenen Ernst entweder mit illusorischen »Wir-kriegen-das-schon-in-den-Griff«-Floskeln kleinzureden oder durch Katastrophengeschrei zum unlösbaren Problem aufzublasen, vor dem der Einzelne dann tatsächlich nur noch kapitulieren kann?
    »Mehr
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