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Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)

Titel: Ach, Harmonistan: Deutsche Zustände (German Edition)
Autoren: Thea Dorn
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als sie selbst. Die Hotelsteuerermäßigung und die Frage, unter welchen Umständen das Sozialamt die Kosten fürs Kabelfernsehen übernimmt, zählen nicht dazu.
    Streiter für die große Sache laufen allerdings stets Gefahr, sich in der schweren Rüstung der Ideologie zu verschanzen, so dass man mit Recht fragen kann, ob in diesen Rüstungen überhaupt noch lebendige, wahrnehmende, denkende Wesen stecken. Das metallische Scheppern früherer Zeiten, wenn die Phrasenpanzer aufeinanderkrachten, war kein schönes Geräusch. Wenn wir heute jedoch auf den Turnierplatz schauen, sehen wir nur mehr Haken schlagende Hasen und gerissene Igel – in der Sprache der Politik: Moving targets, die sich auf keine Position festlegen lassen. Die unschönen Geräusche sind seltener geworden – dafür herrscht jetzt enervierendes Dauerrauschen.
    Mit dem Ende des Kalten Kriegs hat sich ein postideologisches Vakuum ausgebreitet. Der einzige Weg, neue Gedanken in diesen geistigen Leerraum hineinzulassen, wäre es, unideologisch, aber dennoch ernsthaft um Überzeugungen und Haltungen zu ringen. Warum nutzen wir die Abkehr vom alten ideologischen Rüstzeug nicht, uns der Realität samt ihrer Widersprüchlichkeit mit unbewaffnetem Auge zu stellen? Trotz aller postmodernen Unkenrufe: Es gibt sie noch, die gute alte Wirklichkeit. Auch wenn es uns bisweilen so scheinen mag, als ob sie hinter all den Bildschirmen verloren gegangen wäre – solange wir als sterbliche, leidensanfällige Wesen aus Blut und Fleisch existieren, solange es nicht Manna vom Himmel regnet, sind wir noch von dieser Welt. Es geht darum, dem Dasein Sinn zu verleihen, ohne Zuflucht in einem religiösen, philosophischen oder politischen Walhall zu suchen.
    Es ist gut, dass wir im Begriff sind zu verlernen, wie man sich hinter Kommunismus, Konservatismus, Feminismus oder irgendeinem anderen Ismus verbarrikadiert. Dennoch brauchen wir Weltanschauungen, die stabil genug sind, uns Rückgrat und Richtung zu verleihen. Der relativistische Luftikus, dem alles gleich lieb und letztlich alles egal ist, ist nicht weniger obsolet als der Betonschädel, der nicht bereit ist, über seine Festungsmauern hinauszuschauen.
    Für eine Überzeugung geradezustehen, heißt nicht, sich die eigene Nachdenklichkeit zu verbieten. Ein begründeter, für andere nachvollziehbarer Wandel der eigenen Position ist kein Opportunismus. Der Opportunismus, wie wir ihn nicht nur in der Politik, sondern auch in anderen Bereichen der öffentlichen Auseinandersetzung erleben, fängt dort an, wo niemand mehr eine Überzeugung vertritt, weil er wirklich überzeugt ist, weil sie zum Bestandteil seiner Identität geworden ist und sich mit dieser entwickelt. Sondern dort, wo jeder nur noch die Meinung vertritt, die ihm den größten Applaus beim Publikum, sprich: bei der jeweiligen Mehrheit, beschert. Die Popularität einer bestimmten Meinung ist aber kein Ersatz für deren Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit. In früheren Zeiten befragten Denker, Religionsstifter und manchmal sogar Staatsmänner ihr Gewissen, bevor sie eine Entscheidung trafen. Heute rufen sie beim Markt- und Meinungsforschungsinstitut an – und beschweren sich dann, wenn der öffentliche Wirbelwind sein launiges Herbstspiel mit ihnen treibt.
    Immer hektischer werden die Umfragen, Online-Votings und sonstigen Mätzchen, die dem »User« einflüstern, seine Stimme würde gehört. Entwickelte, komplexere, widerspenstige Positionen samt den dazugehörigen Persönlichkeiten haben schlechte Karten. Was zählt, ist die flexible adhoc-Stellungnahme zu diesem und jenem Thema. Während der »User« das fragwürdig triumphale Gefühl genießt, Politiker, Verleger, Fernsehintendanten und andere »Meinungsmacher« mit seinen wöchentlichen, täglichen, stündlichen Abstimmungsergebnissen vor sich her zu treiben, beklagt er das kopflose Hickhack, das er selbst mit produziert. Wer sich nach aufrechteren, klareren Positionen sehnt, möge seinen Zeigefinger für eine Weile zu anderen Dingen nutzen, als ständig den Voting-Button zu drücken. Was auf den ersten Blick mustergültig basisdemokratisch zu sein scheint, trägt in Wahrheit dazu bei, die Demokratie auszuhöhlen.
    Verehrte Frau Mustermann, selbstverständlich halte ich echte Harmonie für nichts Schlechtes. Im Gegenteil: Ich halte sie für etwas Kostbares und Großes. Doch wie alle kostbaren und großen Dinge ist sie nicht der Normal-, sondern der Ausnahmezustand. Wird Harmonie zur Ideologie erhoben,
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