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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua
Autoren: Stewart O'Nan
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sich umdrehte, um nachzusehen. Rufus hatte die Pfoten übereinander gelegt, ließ den Kopf darauf ruhen und sah Emily schuldbewusst an. In beiden Winkeln seiner wulstigen Lefzen klebte Sabber. «Er ist ein braver Bursche.»
      «Rufus, der Dussel.» Diesen Spitznamen benutzten die Kinder, aber er stammte von Arlene und klang nicht gerade liebevoll.
      «Sei nett.»
      «Bin ich doch. Solange er auf dem Handtuch liegt.»
      «Macht er ja.»
      Arlene zündete sich eine Lucky an, und Emily machte das Fenster auf. Die hereinströmende Luft klang wie das Rauschen einer Lötlampe. Der Rauch löste sich nicht auf, sondern trieb nur noch stärker in ihre Richtung.
      «Scheibenkleister», sagte Arlene und schlug aufs Lenkrad.
      «Was ist denn?»
      «Ich hab den Film vergessen. Ich wollte Bilder vom Haus machen.»
      In Erinnerung an alte Zeiten, dachte Emily. «Du kannst dir doch dort einen besorgen.»
      «Ich weiß, aber ... ich hab extra einen gekauft. Ich weiß genau, wo er liegt, mitten auf dem Küchentisch.»
      «Du kannst dir einen von mir leihen, ich habe genug dabei.»
      Emily hatte nicht vorgehabt, Fotos vom Sommerhaus zu machen, nur von Kenneth und Margaret und den Kindern. Als Mrs. Klinginsmith, die Maklerin, von ihr ein neueres Foto haben wollte, hatte sie keins gefunden. Mrs. Klinginsmith hatte gesagt, das sei nicht schlimm, sie werde selbst eins machen, und hatte sofort eine Digitalkamera aus ihrer riesigen Tasche gezogen. Emily und Henry hatten Hunderte von Fotos vom Haus gemacht, doch immer nur als Hintergrund. Sie besaßen unzählige Videos - Sam und Ella beim Krocketspielen, Sarah und Justin, wie sie den noch jungen Rufus aus den todgeweihten Geranien verscheuchen.
      Im Winter hatte sie sich ein paar davon angeschaut und versucht, Henry irgendwo zu entdecken, aber er stand hinter der Kamera, war bestenfalls, in seinen Stuhl zurückgelehnt, als Schatten auf der Veranda zu sehen. Das einzig gute, das sie fand, zeigte, wie er mit Sam und Ella Wiffleball spielte. Kenneth hatte es wohl von jenseits der Home Plate aufgenommen, denn Lisa stand an der ersten Base, und Henry hatte seine Pirates-Kappe seitwärts aufgesetzt, warf den Ball mit einem albernen, weit ausholenden Armschwung von hinten durch die Beine, ein lockerer Lob, den Ella glatt an ihm vorbeischmetterte. Dann kam plötzlich Ellas siebter Geburtstag, und Emily wusste, dass Henry filmte, denn Lisa brachte den Kuchen mit den brennenden Kerzen herein, Emily stand singend neben Sams Stuhl, das Haar vom Schwimmen ganz wirr, und sie hielt das Band an und spulte zurück.
      «Jetzt kommt der gute alte Radioball», witzelte Henry. «Man hört ihn, kann ihn aber nicht sehen.»
      Sie hatte sich die Szene nur ein paar Mal angesehen und sich beim letzten Mal direkt vor den Fernseher gestellt, als wäre sie Henry dadurch näher.
      Als die Enkel noch klein waren, hatten sie immer Videoaufnahmen gemacht, und es war etwas Besonderes gewesen, wenn sie sich vor dem Fernseher versammelten und alles anschauten, doch seit letztem Herbst hatte sie die Kamera nicht mehr benutzt. Weihnachten war sie bei Kenneth und Lisa gewesen und Ostern bei Margaret (Jeff war kurz zur Eiersuche da gewesen, hatte abends jedoch etwas anderes vorgehabt). Auch heute war es ihr nicht in den Sinn gekommen, die Kamera mitzunehmen, und jetzt bedauerte sie es.
      Sie betrachtete die grasige Böschung neben dem Highway, trotz der Dürre bedeckt von rosafarbenem Berglorbeer, auf einer Seite ein künstlich angelegter Abflussgraben. Die Bäume erstrahlten hell, doch dahinter herrschte völlige Dunkelheit. Sie fragte sich, wie tief der Wald wohl war und was für Tiere in ihm lebten, war aber eigentlich nicht daran interessiert, es diente ihr bloß als Ablenkung, um sich nicht länger mit Dingen beschäftigen zu müssen, die sie nicht ändern konnte.
      Nicht nur beim Autofahren schweifte sie mit den Gedanken ab. Beim Fernsehen oder Lesen drehte sich in ihrem Kopf alles um ihre unabänderlichen neuen Lebensumstände, so wie Rufus seine Kette draußen um die Platane wand. Genau wie er riss sie bloß die Rinde ab und hinterließ weitere tiefe Narben. Um den Schmerz zu lindern, schwelgte sie in Erinnerungen, die sich in eine eigene Welt verwandelten, einen Traum, den sie durchstreifen konnte. Der Traum kam ihr wirklich vor, und dann verschwand er, und sie blieb mit der Küche zurück, dem fast vollen Abfalleimer, der Fliege, die im Erdgeschoss herumschwirrte und
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