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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua
Autoren: Stewart O'Nan
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sie daran erinnern, was sie aufgegeben hatte und wie wenig noch übrig war.
      Die Zeit, das war jetzt das Problem (das war schon immer so, nur hatte sie niemanden mehr, der ihr darüber hinweghalf, niemanden, auf den sie sich konzentrieren konnte). Morgens im Garten, nachmittags am Swimmingpool des Edgewood Clubs und abends lesen, während im Radio Brahms gespielt wurde. Sie brachte die Tage auf ihre eigene ruhige Art herum, wartete stets den rechten Augenblick ab und versuchte, Kenneth und Margaret nicht damit in den Ohren zu liegen, dass sie mit den Kindern zu Besuch kommen sollten. Und es war in Ordnung, dass sie in Gedanken oft bei Henry war, es war ja noch nicht so lange her, dass sie nicht mehr an ihn denken durfte. Der Winter war eine harte Prüfung gewesen, weil es früh dunkel geworden war, doch sie hatte ja ihre langjährigen Gewohnheiten - britische Kriminalromane aus der Bücherei, das neue Sonderprogramm von PBS, Mittagessen mit Louise Pickering. Ihr blieben ihre Gesundheit, ihre Zähne, ihre Erinnerungen. Sie wollte keine dieser alten Frauen werden, die immer nur laut von vergangenen Zeiten träumten und von ihren toten Ehemännern sprachen, als würden diese bloß im Nebenzimmer etwas trinken. Vor Henrys Krankheit hatte sie das nie für möglich gehalten. Jetzt befürchtete sie, dass sich diese Veränderung bereits vollzogen hatte, als hätte sie - wie Henry - die Krankheit erst bemerkt, nachdem sie bei ihr deutliche Spuren hinterlassen hatte.
      Weit unten, zu ihrer Linken, entstand durch den Zusammenfluss von Allegheny und Mon der Ohio, das Wasser aufgewühlt wie umgerührte Farbe in einer Dose, die überlappenden Wellen verbargen die starke Unterströmung. Sie stellte sich vor, wie sie dem Wasser folgte und die ganze Nacht durch die kleinen Orte am Fluss mit ihren Backsteinkneipen, ihren Reihenhäusern und rostenden Pick-ups fuhr, mit der Eisenbahnlinie an den toten Nebenarmen und Strudeln entlang flussabwärts, weiter nach Cairo, St. Louis, New Orleans. Sie lebte schon über vierzig Jahre in Pittsburgh; doch jetzt hielt sie hier plötzlich nichts mehr.
      «Das neue Stadion ist fast fertig.» Arlene deutete mit dem Kopf zum anderen Ufer, und es stimmte, dort wurde sogar am Wochenende gearbeitet, auf dem Gerüst rings um die Fassade einzelne Bauarbeiter, davor ein oranger Kran mit einem riesigen Steelers-Transparent.
      «Sie haben heute ein Spiel», sagte Emily. «Dabei ist es gerade mal August.»
      «Gegen Buffalo.»
      «Na toll, wir fahren direkt ins feindliche Territorium.»
      «Vielleicht kauf ich mir endlich dieses T-Shirt.»
      Das war ein alter Witz. Die Bills trainierten in Fredonia, und in den Lebensmittelläden wimmelte es von Bills-Fanartikeln, der Gang mit der Saisonware eine Ansammlung von Mützen, Gläsern und Bierkühlern, Lampen, Nummernschildern und Chip-n-Dip-Tellern. Fans kreuzten in Winnebagos auf, die in den Mannschaftsfarben gespritzt waren, und einige ihrer Nachbarn in Chautauqua ließen blaurote Fahnen wehen.
      Seltsam, wie sich alles veränderte. In ihrer Jugend in Kersey, in den bewaldeten Hügeln im Herzen von Pennsylvania, hatten all ihre Freundinnen Buffalo und Pittsburgh als ihre Rettung betrachtet, als den einzigen Ausweg aus ihrem Städtchen. Pittsburgh war ihnen verlockender erschienen als Buffalo, eine Vorstellung, deren Naivität Emily jetzt traurig fand. Sie war eine richtige Landpomeranze gewesen; Henry hatte sie immer wieder daran erinnert. Damals hatten die beiden Städte für sie einen großen Zauber besessen, und Emily hatte sich bemüht, mit der Radiotruhe ihres Vaters die dort ansässigen Sender zu empfangen. Beide Städte waren berühmt gewesen für harte Knochenarbeit. Jetzt wirkten sie wie Überbleibsel einer vergangenen Zeit, hoffnungslos und leer, die Schwerindustrie abgewandert oder zugrunde gegangen. Sie und Henry hatten wie alle anderen ihre Flitterwochen in Niagara Falls verbracht. Sie hatten sich in Regenjacken auf der Maid oftheMist fotografieren lassen. Emily konnte sich noch erinnern, wie sie Henry geküsst hatte, wie ihnen das Wasser übers Gesicht geströmt war.
      Sie war jahrelang nicht in Buffalo gewesen und würde vermutlich auch nicht mehr hinfahren.
      «Hat es in Buffalo irgendwelche Bills gegeben?», fragte Emily.
      «Hat es in Pittsburgh irgendwelche Piraten gegeben?»
      «Abgesehen von Andy Carnegie und Mr. Frick.»
      «Wie geht's Rufus?»
      «Alles in Ordnung», erwiderte Emily, bevor sie
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