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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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geachtet zu werden, dass ich mich in der Behandlung und Pflege als Subjekt erkennen kann. Ich möchte meine Möglichkeiten der Selbstkontrolle im Falle einer zum Tode führenden Krankheit so wahrnehmen können, dass dies von allen auch in den letzten Stunden und Tagen als Hinweis auf Würde empfunden wird. Im Sterben Kontrolle über das Geschehen zu behalten ist nicht das gleiche wie Macht über das Sterben zu haben oder das Leben zu kontrollieren. Sich die Selbstkontrolle im Sterben bewahren zu können ist eine wichtige Möglichkeit, Angst und Schmerz im Abschied zu mindern und der Begegnung mit dem Tod ihren Schrecken zu nehmen.
    Ich lernte Frau K. erst als Sterbende kennen. Sie muss eine sehr schöne Frau gewesen sein, dachte ich – aber das war nur zu ahnen. Die weit fortgeschrittene Krebserkrankung hatte aus ihr ein ausgezehrtes Knochengerüst gemacht, das sich nur mühsam mit letzter Kraft auf den Balkon schleppte, um dort eine Zigarette zu rauchen. Trotz intensiver Bemühungen lag im Zimmer der Patientin ein von dem Tumor ausgehender abstoßender und übler Geruch, der sich mit dem intensiven Parfüm vermischte, das Frau K. in großer Menge für sich verwendete. Sorgsam achtete sie darauf, sich selbst zu kleiden und zu schminken. Die tief dunkelrot bemalten Lippen und die mit violettem Lidschatten und dunkelgrünem Lidrand geheimnisvoll betonten Augen erinnerten mich an Nofretete, obwohl in dem Gesicht der Sterbenskranken sonst nichts mehr zu erkennen war, das Ähnlichkeit mit dem harmonischen Glanz im Porträt der ägyptischen Königin hatte. Frau K. bestand bis zuletzt darauf, sich zu schminken, und selbst am Tag, an dem sie starb – als sie schon viel zu schwach war, um ohne Hilfe den Balkon zu erreichen und die Zigarette selbst zu halten – verwendete sie viel Mühe darauf, vor ihrem letzten Ausflug auf den Rauchbalkon das Make-up zu bekommen, das ihr so wichtig war.
4. Würde und Privatsphäre respektieren
    Würde im Sterben bedeutet auch Respekt vor der Autonomie des Sterbenden, indem das Sterben als Prozess und der Tod als Phänomen angenommen werden. Im Sterben findet Autonomie – zumindest in Form der Fähigkeit und Disposition, über die eigenen Kräfte zu verfügen – ein Ende, während die Würde auch über den Tod hinaus erhalten bleibt. Trotz allerSchwierigkeiten, Würde zu definieren, bedeutet Würde im Sterben, sich an ein Geheimnis anzunähern und auf »die tastende Suche nach Unantastbarkeit« 212 einzulassen. Achtung der Menschenwürde im Sterben bedeutet somit in gleicher Weise Annäherung und Rücksichtnahme.
    Manchmal erkennt man Würde erst dann, wenn sie verletzt wurde, denn obwohl sie auch im Zerfall unantastbar bleibt, ist sie gerade dann auch besonders verletzbar. Wenn wir also von menschenwürdigem Sterben sprechen, so stellt sich die Frage, worauf sich diese Würde bezieht. Wenn es eine innere, eine immanente Würde im körperlichen oder geistigen Verfall gibt, so bedeutet dies einen Wert, der sich nicht unmittelbar erschließt. Würde ist dann im Sinne Kants ein Wesenskern, der über uns steht, auch wenn Körper und Geist verfallen. Menschenwürdiges Sterben wird oft mit der Möglichkeit der noch vorhandenen Selbstbestimmung und körperlichen Selbständigkeit im oder zum Sterben in Beziehung gesetzt. Aus der Tatsache, dass Schwerkranke und Sterbende nicht mehr über ihren Körper verfügen können, kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass sie keine Würde mehr haben. Insofern ist die Achtsamkeit auf die Würde im Sterben auch eine Annäherung an das Wesen der Würde. 213
    »Im Dezember 1803 vermochte er [Immanuel Kant] seinen Namen nicht mehr leserlich zu schreiben … Nach und nach begannen seine sämtlichen Sinne zu versagen. Speisen und Löffel, die sein schwaches Auge nicht mehr fand, legte ihm der treue Helfer vor bzw. in die Hand … Vom 3. Februar an aß er so gut wie gar nichts mehr. Als ihn an diesem Tag sein Arzt, der Professor der Medizin und derzeitige Universitätsrektor Elsner besuchte, suchte Kant ihm in allerlei unzusammenhängenden … Worten seine Dankbarkeit dafür auszudrücken, dass er bei seinen mannigfachen ›beschwerlichen Posten‹ ihm so ›viele Güte‹ bezeige. Auch wollte er trotz seiner Schwäche sich nicht niedersetzen, bis sein Arzt Platz genommen … ›Das Gefühl für Humanität hat mich noch nicht verlassen.‹
    Die letzten acht Tage waren eigentlich nur ein langsames Hinsterben. Am Sonntag, den 5. Februar, saß er ... noch mit Mühe bei
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