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Abschied braucht Zeit

Abschied braucht Zeit

Titel: Abschied braucht Zeit
Autoren: H Christof Mueller-Busch
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und Vollmachten zu erstellen. Natürlich möchte ich mich nicht lange quälen, und auch ich möchte, dass ich nach einem akuten Ereignis wie einem schweren Schlaganfall, einem Herzinfarkt, einer Blutung oder einem Unfall nicht einfach wieder »zurückgeholt« werde, wenn mein Sterben schon begonnen hat. Aber ich wünsche mir auch, dass alles, was mit mir gemacht wird, wenn ich nicht mehr selbst entscheiden kann, mit dem in Beziehung gesetzt wird, was meinem Lebensvollzug und meinen Vorstellungen von Selbstgestaltung entspricht, und dass die Verantwortlichen sich fragen, ob die Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen dann nicht auch stimmig sein kann. Eine physiologisch sinnvolle Begründung grundsätzlich möglicher lebensverlängernder Maßnahmen ist keine hinreichende Voraussetzung für deren Durchführung. Insofern soll das Ziel der Behandlung auch meine Lebenssituation, meine Werte und Vorstellungen von Sinn im Leben mit einbeziehen. Ich möchte dem Tod nicht die Tür öffnen, aber ich möchte mitbestimmen können, wann sich die Tür öffnen darf. Ich bin mir bewusst, dass es Situationen geben kann, in denen die Verzweiflung keine Gegenkraft mehr findet und die Geduld keinen Raum. Wenn sich Möglichkeiten eröffnen, die man in gesunden Tagen nie für sich in Anspruch nehmen würde, so wünsche ich mir, dass dies von den Menschen, die mich behandeln, auch so angenommen und respektiert werden kann. Ich wünsche mir, nicht in eine Dilemmasituation zu geraten, in der Zweifel zu meinem Willen und zu meinem Wohl entstehen, z.B. durch eine fortgeschrittene Demenz oder ein lang andauerndes Koma, denn ich kann Selbstbestimmung dann mit einem guten Sterben nicht mehr selbst in Beziehung bringen. Sterben zu können, wenn die Zeit gekommen ist, bedeutet für mich, in einem selbst bestimmten und von meinem Umfeld akzeptierten Zeitrahmen sterben zu dürfen, aber es bedeutet nicht, den Augenblick des Todes selbst festzulegen. Und ich wünsche mir, dass die Würde einer Sterbesituation von allen Menschen, die dabei sind, auch in ihrer Stimmigkeit empfunden werden kann.
    Thomas Mann starb 80-jährig im August 1955 beim Einschlafen. Kurz zuvor hatte er noch nach seiner Brille verlangt. Todesursache war ein Aneurysma der Bauchaorta, das geplatzt war. Einen Monat zuvor war er an einer Beinvenenthrombose erkrankt. Sein Biograph Hermann Kurzke schreibt: »Der Tod kam für die Ärzte überraschend. Die Behandlung der Thrombose war erfolgreich gewesen. Dem Patienten schien es besser zu gehen, als, nach einem Schwächeanfall am 11. August, am Morgen des 12. Augusts plötzlich ein schwerer Kollaps einsetzte, für den die Heilkunst keine Erklärung hatte. Am gleichen Abend um zwanzig Uhr starb Thomas Mann, im Beisein von Katia. Sein Gesichtsausdruck wechselte im Hinübergang. ›Es war sein Musikgesicht‹, berichtet Erika, ›das er nun meiner Mutter zuwandte, das Gesicht dessen, der auf eine zugleich versunkene und tief aufmerksame Art dem Vertrautesten und Liebsten nachhorcht.‹« 210 In seinem letzten Tagebucheintrag am 29. Juli 1955 schreibt Thomas Mann: »Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dies Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten …« 211
3. Die Kontrolle über das Geschehen behalten
    Natürlich wünsche auch ich mir, möglichst lange gesund zu sein und mein Leben selbst gestalten zu können. Aber wenn ich an ein gutes Sterben denke, so wünsche ich mir besonders, dass mir bis zuletzt die Kontrolle über meine körperlichen Funktionen erhalten bleibt und dass mir und den anderen der Ekel und die Abscheu vor den verschiedenen Ausscheidungen und Flüssigkeiten, die ein Sterben manchmal unerträglich machen, erspart bleibt. Ich wünsche mir auch, der Sterbesituation kognitiv und emotional so begegnen zu können, dass ich und auch meine Angehörigen sie ohne Angst erleben können. Die Achtung der Selbstkontrolle hängt wohl auch sehr von den Menschen ab, die einen Sterbenden in den letzten Stunden begleiten. Insofern wünsche ich mir, wenn ich Hilfe benötige, so behandelt zu werden, dass ich in meinem Zeitbedarf respektiert werde, wenn durch die Zeichen des nahen Todes – zunehmende Schwäche, vermehrtes Schlafbedürfnis, Rückzug – alles anstrengender und mühsamer wird und ich vielleicht mit letzten Kräften versuche, die Selbstkontrolle zu erhalten. Der Tod lässt sich nicht kontrollieren. Aber zu meinen Vorstellungen eines guten Sterbens gehört auch, bis zuletzt in meiner Identität respektiert und so
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