Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust
Autoren: Robin Schone
Vom Netzwerk:
gar nicht wissen, was er mit inneren Wunden machte.
    Zwei Ewigkeiten vergingen, bis die Wachen kamen: Sie trugen Michael auf einer Tür. Wortlos stiegen sie die Treppe mit dem roten Plüschläufer hinauf, die an der gegenüberliegenden Wand in grelles elektrisches Licht hinauf führte. Der Arzt folgte ihnen.
    Andy saß Victoria gegenüber und trank den Gin. »Wenn er tot wäre, würden sie ihn nicht raufbringen«, sagte er freundlich. Aber wen wollte er damit aufheitern?
    Drei Ewigkeiten vergingen, bevor Gabriel kam.
    Victoria stand auf, das Herz pochte ihr bis zum Hals.
    Gabriel schaute sie nicht an. Er folgte Michael und dem Arzt nach oben.
    Victoria setzte sich wieder, die Füße sittsam nebeneinander gestellt. Eine Dame von Geburt, wenn schon nicht ihrer Natur nach.
    Ein kalter Luftzug ließ die Kerzenflammen tanzen.
    Victoria sah auf. Sie brauchte keine förmliche Vorstellung, um zu wissen, wer die Frau war, die hinter einem Jungen, kaum älter als Andy, in den Saal kam.
    Peter hatte Mademoiselle Anne geholt.
    Andy schlüpfte aus seinem Sessel und lief zu ihnen. Sofort rannte er die Treppe hinauf, dicht gefolgt von der Frau und dem größeren Jungen.
    Tränen brannten Victoria, der Außenseiterin ohne Familie, in den Augen. Ohne nachzudenken streckte sie die Hand aus und nahm das fingerverschmierte Glas, das Andy stehen gelassen hatte. Es war noch ein Schluck Gin darin.
    Victoria trank die klare Flüssigkeit.
    Tränen schossen ihr in die Augen; lange verschlug es ihr den Atem. Sofort erfüllte ein sanftes Glühen den Saal.
    Weder das sanfte Glühen noch der brennende Ball Flüssigkeit änderten etwas an der Einsamkeit. Sie änderten auch nichts an den Gedanken, die sich in ihrem Kopf im Kreis drehten.
    Sie fragte sich, was wohl die ältere Frau gerade machte, die das Können eines jüngeren Mannes gekauft hatte.
    Sie fragte sich, ob Michael noch lebte.
    Sie fragte sich, ob Yves das Band zwischen den beiden Engeln zerrissen hatte.
    Stunden vergingen. Victoria wusste es, weil die tropfenden Kerzen sprühten und zuckten.
    Sie ließ ihr Leben Revue passieren.
    Aus den Erinnerungen an die kalten Verurteilungen ihres Vaters tauchte die Stimme ihrer Mutter auf.
    Einer Mutter, die ihre beiden Kinder geliebt hatte. Einer Mutter, die ihnen Märchen vorgelesen hatte.
    Einer Mutter, die ohne die Liebe, die sie brauchte, eingegangen und gestorben wäre.
    Ich weiß es, sagte der Engel, denn … ich kenne meine eigene Blume gut.
    Langsam stand Victoria auf und ging die Treppe mit dem roten Plüschläufer hinauf, Seide und Satin der Schleppe raschelten.
    Das Zimmer, in das man Michael gebracht hatte, war nicht zu verfehlen: Schüsseln mit blutrot gefärbtem Wasser und ein Haufen blutiger Laken lagen vor der Tür. Die Nummer sieben glänzte golden auf der weiß lackierten Tür.
    Victoria hatte dieses Zimmer erst vor wenigen Stunden besucht.
    Hätte sie Juliens Tod verhindern können, wenn sie ihm und Gaston gesagt hätte, was sie flüchtig in dem transparenten Spiegel gesehen hatte?
    Sie würde es nie erfahren.
    Leise drehte Victoria den vergoldeten Türknauf.
    Der scharfe Geruch von Karbol stach ihr in die Nase.
    Ein dunkelhaariger Mann und eine Frau mit hellbraunem Haar spiegelten sich in dem transparenten Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. Er lag ausgestreckt unter einer gelben Seidendecke, sie saß neben dem Bett in einem mit grünem Samt bezogenen Sessel, ohne Hut, das Haar zu einem eleganten Chignon aufgesteckt, ihr pfauenblaues Kleid ein offenkundiges Meisterwerk von Madame René.
    Victoria schätzte die Frau auf Mitte dreißig, ein oder zwei Jahre älter als Victoria.
    Hellblaue Augen trafen unvermittelt auf vom Entsetzen matte blaue Augen.
    Mademoiselle Anne musterte die Frau in der Tür unverwandt, die ein goldbraunes Kleid aus Seidenkord mit weinroten Samtborten und Lampaseinsätzen mit grünen, gelben und roten Figuren trug, offensichtlich ebenfalls ein Werk von Madame René.
    »Sie sagte, ich hätte passable Beine, aber meine Brüste seien zu klein und meine Taille zu dick.«
    Victoria zwinkerte verwundert. Michaels Frau sprach wie eine Dame: leise, hauchige, kultivierte Stimme. Ebenso englisch wie Victoria.
    »Madame René sagte, meine Brüste seien passabel, aber meine Hüften und mein derrière seien zu dürr«, antwortete Victoria ruhig. »Sie sagte, das Problem ließe sich mit Polstern beheben.«
    Die hellblauen Augen im Spiegel betrachteten Victoria aufmerksam. »Aber Gabriel fand nichts an Ihnen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher