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Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust
Autoren: Robin Schone
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würden. Um die Frau da unten, die bald sterben würde. Perfekte Beute und perfektes Raubtier. Gabriel zielte auf den fahlen Schimmer ihres Gesichts.
    Gleichzeitig sagte eine Frauenstimme laut und deutlich: »Gentlemen, ich biete Ihnen meine Jungfräulichkeit an.«
    Gabriel erstarrte. Die Frau war gekleidet wie eine Straßendirne; sie sprach wie eine wohl erzogene Dame. Nach und nach erstarb das affektierte Gelächter der vornehmen Herren und das geübte Gekicher der Kokotten. Seide wisperte. Kerzenflammen flackerten. Unsicherheit lähmte seine Kellner. Die Pflicht gebot, die Frau in ihrem billigen schwarzen Umhang hinauszuwerfen; die Erfahrung lehrte sie, dass es zu spät war: Die Unbekannte hatte bereits die Aufmerksamkeit reicher Freier erregt. Jungfräuliches Fleisch war begehrte Ware. Die Kellner würden nicht eingreifen.
    »Der Mann, der das höchste Gebot abgibt, soll seinen Lohn noch in dieser Nacht erhalten«, fuhr sie mit schallender Stimme fort, die Hände ruhig, die Haltung gelassen, der Tod nur eine Kugel entfernt. »Fangen wir mit einhundertfünf Pfund an?«
    Einhundertfünf Pfund wogte es durch Rauch und Dunst.
    Auf den Londoner Straßen verkaufte sich Jungfräulichkeit – echte oder fabrizierte – für fünf Pfund, nicht für einhundertfünf .
    Wie ein Schlag traf Gabriel die Erinnerung: an ein französisches maison de rendezvous und an eine Frau in luxuriösem purpurrotem Satin.
    Vor siebenundzwanzig Jahren hatte Madame seine Unberührtheit für zweitausendsechshundertsechsundvierzig Francs verkauft. Einhundertfünf englische Pfund entsprachen zweitausendsechshundertsechsundvierzig französischen Francs. Dieses Wissen konnte die Frau nur von zwei Menschen haben: von Michael oder vom zweiten Mann. Gabriel zweifelte keinen Augenblick, von welchem der beiden sie ihr Wissen bezogen hatte. Er spannte den Revolver mit dem Daumen.
    »Na hör mal!« Bosheit enthüllte die Cockney-Herkunft einer Dirne. »Keine Fischblase is' hundertfünf Pfund wert, Schätzchen!«
    Licht und Schatten erbebten unter männlichem und weiblichem Gelächter. Die verhüllte Frau lachte nicht. Lachte der zweite Mann? Richtete er einen Revolver auf Michael, während Gabriel mit seiner Waffe auf die Frau zielte? Oder drückte die verhüllte Frau langsam den Abzug einer Waffe in ihrer Tasche, ohne etwas von ihrem Schicksal zu ahnen?
    War die Frau gekommen, um einen Engel zu töten … oder war sie gekommen, um einen Engel abzulenken?
    »Ich versichere Ihnen, Madam, meine Jungfräulichkeit stammt nicht vom Fischhändler«, erwiderte die Frau kühl. »Ich bin tatsächlich Jungfrau.«
    Es war möglich. Die Umstände zwangen keusche, gebildete Frauen ebenso auf die Straße wie die lebenslustigen Ungebildeten.
    Es spielte keine Rolle. Eine Waffe war in der Hand einer Jungfrauebenso tödlich wie in der Hand einer Dirne. Gabriels Mittelfinger schmiegte sich an gebogenes Metall.
    »Dann nimm deinen Umhang ab, Mädchen, und zeig uns, was du zu bieten hast«, forderte Lord James Ward Hunt, Earl of Goulburn und Innenminister, sie grob heraus. Gabriel würdigte ihn keines Blickes.
    Im Kerzenlicht schimmerte das pomadige Haar des Mannes wie schwarzes Öl. Schatten verwandelten Rot in Schwarz. Das Blut der Frau würde ebenso schimmern wie das Haar des Innenministers.
    »Ich sehe keinen Grund, mich zur Schau zu stellen, Sir«, erwiderte die verhüllte Frau ruhig. »Nicht mein Körper ist von Wert, sondern meine Jungfräulichkeit.«
    Erstaunen ließ das restliche Gekicher verstummen. Huren, die Freier suchten, weigerten sich nicht, ihre Ware zur Schau zu stellen. Gabriel kannte sich aus, er hatte selbst über zwölf Jahre lang als Hure gearbeitet.
    Anziehen. Ausziehen.
    Reizen. Verführen.
    Seinen Körper zu verkaufen war ihm als kleiner Preis für Essen, Schuhe und ein Bett zum Schlafen erschienen. Anfangs. Am Ende hatten seine Liebesdienste ihm nur noch als Beweis gedient, dass er nicht die Hure war, zu der man ihn ausgebildet hatte.
    Der zweite Mann hatte ihm bewiesen, dass er sich geirrt hatte.
    »Donnerwetter, sie hat Mumm!« Gabriel konzentrierte sich auf die Frau, nicht auf den frisch gewählten Parlamentsabgeordneten, der gerade sprach. »Ich gebe dir zwanzig Pfund, na, und?«
    »Die Jungfräulichkeit ist die Mitgift einer Frau«, erklärte die verhüllte Frau ungerührt und wandte sich von Michael fort dem Parlamentsabgeordneten zu. Der Wechsel ihrer Haltung ließ den dunklen Gegenstand erkennen, den sie fest in der Hand hielt: Es war
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