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Abgrund der Lust

Abgrund der Lust

Titel: Abgrund der Lust
Autoren: Robin Schone
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die sie sich nie zugetraut hätte; die Tür ging auf.
    Dunkle Flüssigkeit bildete Lachen auf dem Flur und tropfte die Holztreppe hinunter. Juliens Blut.
    Galle stieg ihr in die Kehle; sie schluckte krampfhaft.
    Für Julien konnte sie nichts mehr tun; aber noch konnte sie einem gefallenen Engel helfen.
    Victoria trat in Blut, rutschte auf Blut, erreichte die unteren Treppenstufen. Die untere Tür war bereits auf.
    Kerzenlicht erhellte das Labyrinth der Tische, silberne Kerzenständer schimmerten, gelbe Flammen tänzelten. Ein Kellner in kurzem schwarzem Rock blieb stehen, als er sie sah; die Schärpe um seine Taille hob sich blutrot gegen seine weiße Weste ab, das Streichholz verharrte über einer nicht angezündeten Kerze.
    Victoria erkannte ihn: Er war der schwarzhaarige Wächter, der ihr vor zwei Tagen das Frühstück gebracht hatte.
    »Jeremy!«, rief er. »David! Patrick! Charlie! A moi !«
    Zu mir.
    Plötzlich rannten Männer auf Victoria zu, griffen in ihre kurzen schwarzen Jacken; sie liefen an Victoria vorbei, blau plattierte Revolver gezogen.
    Unzusammenhängend fragte sie sich, was sie wohl denken mochten, wenn sie den zweiten Mann sahen.
    Was hatte Julien gedacht, als er in violettblaue Augen sah?
    Er hatte überrascht ausgerufen, »Mr. Michael«, als Yves die Tür öffnete; dann hatte sie ein wässriges Gurgeln und einen dumpfenAufprall auf Holz gehört. Yves hatte mit triumphierendem Grinsen die Tür geschlossen.
    »Was ist?«
    Plötzlich stand Gaston vor Victoria, das Messer gezückt, die Klinge im Kerzenlicht funkelnd. Ein Mörder, kein Geschäftsführer. Victoria schreckte zurück. Gaston nahm ihre gefesselten Hände und schnitt die geknotete Seide durch.
    Sie leckte sich die Lippen. »Sie sind tot.«
    Gastons braune Augen weiteten sich. »Gabriel und Michael?«
    »Nein. Julien.« Tränen füllten ihre Augen. »Julien und … zwei andere Männer. Aber nicht … Gabriel. Michael ist verletzt.« Um Gabriels willen durfte Michael nicht sterben. »Er braucht einen Arzt.«
    »Andy!« Victoria bemerkte einen Jungen, der über einen Tisch lauerte. Er mochte fünf oder fünfzehn sein – manche Kinder, die auf der Straße geboren waren, wuchsen nie zu voller Größe heran. »Hol docteur François. Und sag Peter, er soll Mademoiselle Anne holen.«
    Anne. Michaels Frau. Die Frau, die Gabriel gemocht hatte und für die der zweite Mann eine Doppelgängerin gesucht hatte.
    Stattdessen hatte er Victoria gefunden.
    Andy huschte davon, um Gastons Aufträge auszuführen.
    Mit Mühe schob Victoria den Schmerz und den Schrecken der letzten Stunden beiseite. »Man sollte die Polizei rufen …«
    »Keine Polizei, Mademoiselle.« Gastons Miene war verschlossen. »Mira, bring Mademoiselle Childers in die Küche. Pierre wird Ihre Wunde versorgen, Mademoiselle.«
    Dann war Gaston verschwunden.
    Mira starrte Victoria mit harten, schlauen Augen an; die freundliche Wärme, die noch vor wenigen Stunden aus ihren Augen gestrahlt hatte, war dem Wissen um Kälte, Hunger und Tod gewichen.
    Victoria fragte sich, wo Mira herkommen mochte – aus der Küche? Sie war nicht im Saal gewesen, und dann war sie plötzlich da. Victoria bezweifelte nicht, dass sie früher einmal auf der Straße gelebt hatte. War sie eine Bettlerin, Prostituierte, Diebin undMörderin? Unvermittelt fragte sie sich, wie alt Mira sein mochte. Die Falten in ihrem Gesicht konnten vom Alter oder von Entbehrungen herrühren. Nur ihre Augen – in der Farbe makelloser blauer Saphire – waren lebhaft und klug.
    »Ich habe ihm nicht …« Victoria schluckte; ihm nicht wehgetan , hatte sie sagen wollen; aber sie wusste, dass sie Gabriel schon allein damit wehgetan hatte, dass sie in sein Hause gekommen war; sie hatte Julien wehgetan, indem sie nicht erwähnt hatte, was sie in dem transparenten Spiegel gesehen hatte – »Ich muss zu Gabriel. Er braucht mich.«
    Sie wusste, dass sie log.
    Gabriel brauchte nicht Victoria, er brauchte ein Wunder.
    »Mr. Gabriel ist doch nicht verletzt?«, fragte Mira scharf.
    »Nein, er ist nicht verletzt.« Verletzt war nicht das richtige Wort, mit dem Victoria Gabriels Zustand beschreiben würde. »Mr. – Jules ist tot.« Tränen brannten in ihren Augen. »Ich konnte ihn nicht warnen.«
    Der zweite Mann hatte Victoria gepackt, ihr den Schal in den Mund gestopft und die Dose Pfefferminz aus der Hand geschlagen.
    Julien hatte Gabriel geliebt. Und nun war er tot.
    Trauer ließ Miras leuchtend saphirblaue Augen matt werden. »Ja,
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