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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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der anderen öffnete sich – es gab ja immerhin 41 Zimmer im Schloss – und dann stand er da, der alte Graf, neben dem offenen Kamin, in dem ein helles Holzfeuer brannte, er hatte sich auf seinen Spazierstock gestützt, der hatte einen echt silbernen Knauf in Form eines Hundekopfs. Hermann von Ottenstedt. Er hatte zwar schon weiße Haare, aber stand noch kerzengerade, so wie man das manchmal auf alten Ölbildern im Museum sieht. Neben ihm lag ein riesiger Hund, so eine schwarze deutsche Dogge, vor der wir damals alle Angst hatten. Er winkte mir zu und mein Herz klopfte so laut, dass ich meine linke Hand auf die Seite presste. Ich machte meinen Knicks, wie die Köchin es mir gezeigt hatte, und er winkte mich noch näher heran, gab mir die Hand, nannte mich beim Namen, wünschte mir alles Gute zum Geburtstag, Gottes Segen und ließ mir dann durch den Kammerdiener ein Geschenk überreichen. Dann fragte er, wie es meinem Vater und meiner Mutter geht, ob meine kleine Schwester den Ziegenpeter überstanden hat und ob ich meinen Bruder sehr vermisse, weil der ja schon seit ein paar Jahren Soldat war. Er wusste alles, ich konnte kaum ein Wort rausbringen. Es war für kurze Zeit so ein Gefühl, etwas ganz Besonderes zu sein. So einen Tag, wissen Sie, vergisst man nicht. Und gestern war wieder so ein Tag. Na ja, vielleicht nicht ganz so einmalig. Sie haben da so einen großen Saal im Hauptpostamt, geschmückt mit Blumen und Girlanden und Losungen, und ganz vorne, auf der Bühne stand mein oberster Chef. Sie haben meinen Namen aufgerufen, über Mikrofon, und ich musste an allen vorbei durch die ganzen Stuhlreihen gehen. Sie haben so laut Beifall geklatscht, dass ich ganz rot geworden bin und wieder dieses wilde Herzklopfen hatte. Oben auf der Bühne ging es dann schon besser. Da standen noch vier andere. Sie haben immer fünf mit einem Mal aufgerufen, weil es sonst zu lange gedauert hätte. Mein Chef hat meinen Namen von der Urkunde abgelesen, mir den Orden angesteckt, das Kuvert mit dem Geld gegeben, ein paar rote Nelken überreicht und Weiter so, Kollegin gesagt, bei den anderen vier übrigens auch. Dann wurden wir alle zu Kaffee und Kuchen eingeladen, es gab Wein, Sekt und Likör, und eine dicke Sängerin vom Theater in einem langen schwarzen Samtkleid hat Ich bin die Christel von der Post gesungen. Also eigentlich war es ein schöner Tag gestern, sie haben sich wirklich Mühe gegeben und trotzdem war das damals beim Grafen noch anders, irgendwie noch mehr besonders. Aber das Geld kann ich gut gebrauchen.«
IV.
    E s war seltsam, die gräfliche Familie von Ottenstedt schien immer noch im Dorf anwesend zu sein, obwohl der alte Graf schon vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges gestorben war und sein Sohn gleich danach das Dorf in Richtung Westen verlassen hatte. Viele in diesem kleinen Flecken hier waren noch immer auf die eine oder andere Art mit den ehemaligen Gutsherren verbunden: Da hatte es Eddas Mann, den Pferdeknecht und Kutscher des alten Grafen gegeben, dann den Sohn des Kammerdieners Kollmann, den Spezi , der noch immer im Dorf als Lehrer lebte und der dem jungen Grafen angeblich sogar in Ägypten begegnet war, als der als Leutnant in Rommels Afrikakorps gedient hatte. Der alte Erwin, der noch als Rentner Milchfahrer der Genossenschaft war, hatte mir erzählt, dass der Graf unter seinen Schlossangestellten keine Nazis geduldet hatte, aber auch keine Roten. Und Gottfried der Maurer schließlich kannte von seinem Vater die wahre, tragische Geschichte der letzten Gräfin, die aus rätselhaften Gründen den Tod gefunden hatte… Ich wäre nicht verwundert gewesen, wenn es deshalb im Schloss gespukt hätte, denn obwohl es nach und nach verfiel, bildete das Herrenhaus noch immer den Mittelpunkt des Dorfes, ein imposantes Gebäude, gebaut zum Ende des 19. Jahrhunderts, als das alte Schloss nicht mehr repräsentativ genug erschien. Umschlossen war es von einem Park mit seltenen Laub- und Nadelgehölzen, in dem sich nun außer einem drahtmaschig umzäunten Hühnerstall und einem Gemüsegarten auch ein sowjetisches Ehrenmal befand, das von Rudi, dem Schweinemeister noch immer gepflegt wurde.
    Vom Schloss wurden nur noch zwei Räume genutzt: Im rechten Flügel befand sich der kleine Dorfladen, der Konsum, in dem man das Nötigste einkaufen konnte, um nicht in den vier Kilometer entfernten Nachbarort fahren zu müssen. Und im so genannten Sommersalon hielt Gisbert als Landarzt alle vierzehn Tage eine Sprechstunde ab. In diesem
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