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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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heute. Ihr Interesse reichte gerade bis zur Kreisstadt, weil dort ja die saßen, von denen sie verwaltet wurden. Ich stellte fest, dass ich nach einiger Zeit anfing, doch neugierig auf das zu werden, was mir über die Lebenden und die Toten von Hohenfeld erzählt wurde. Immer häufiger verließ ich die Hauptstadt in Richtung polnischer Grenze, nicht mehr, um mich dort hinter meiner Schreibmaschine zu verkriechen, sondern um in der Kneipe zu sitzen, auf dem nahe gelegenen See zu angeln, und – der beste Vorwand für meine Stadtflucht – weiter an meinem Landhaus mit zu bauen. Denn ich war dabei natürlich nie allein, weil ich die Maurer, Töpfer- und Zimmermannsarbeiten, die Installation und Elektrik den Experten aus der Gegend überlassen musste.
    Als das Dach des Hauses mit roten Betonziegeln neu gedeckt war und ein Ofensetzer aus einem Grenzdorf mir zwei große Kachelöfen in die unteren Räume gesetzt hatte und einen Kochherd in die Küche, war die Bewohnbarkeit des Fachwerkhauses grundsätzlich wieder hergestellt: Trockenheit und Wärme. Die nun folgenden Arbeiten waren vor allem Sache des Maurers Gottfried, der mich vor dem Erwerb gewarnt hatte. Und von ihm erfuhr ich auch die ersten Geschichten. Zum Beispiel die von der wundersamen Wandlung der Edda Pommerenke, der Postfrau. Ich wusste nur, dass sie auf die Sechzig zuging und sich noch immer die Haare kastanienbraun färbte. Und dass sie gern ein paar Worte mit mir wechselte, obwohl ich höchst selten einen Brief hier im Dorf erhielt.
    »Das war früher ganz anders mit der Edda«, hatte Gottfried mir eines Tages anvertraut. »Sie hatte sich von irgendeinem Kerl – keiner hat damals gewusst, von wem – ein Kind andrehen lassen, böse Zungen behaupteten sogar, dass es ein Russe gewesen war, also ein Sowjetsoldat«, verbesserte er sich schnell. »Vielleicht war´s auch vom Sohn des letzten Grafen, wer weiß, die Edda war verdammt hübsch damals. Also wer der Vater wirklich gewesen ist, hat nie jemand erfahren, man hat später auch nischt davon gesehen, das Mädchen war der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber damals war das eben eine Schande, so ein Kind ohne Vater. Da hat die Edda dann den alten Pommerenke geheiratet – damit das Gerede ein Ende haben sollte. Der Pommerenke war mal Kutscher auf dem Gut gewesen und er war achtunddreißig Jahre älter. Der war dann für die Tochter, die Johanna, sowas wie Vater und Großvater zusammen. Sonst hätte die Edda bestimmt einen besseren gekriegt, als diesen alten Säufer, wenn du mich fragst. Der hatte sich sein ganzes Leben lang immer nur um die Pferde des Grafen und um seinen Selbstgebrannten gekümmert. Als die Edda ihn genommen hat, saß ihm die Gicht schon in den Knochen und die Prostata hat ihm zu schaffen gemacht, trotzdem hat er nach wie vor geschluckt wie der Deibel. Und wenn er so richtig voll war, hat er auf der Dorfstraße laut nach Edda geschrieen, sie Soldatenflittchen und Hure genannt und zu Hause hat er sie dann verprügelt, mit so einem ledernen Riemen, der früher mal zum Zaumzeug des Vierergespanns gehört hatte. Dat hat später ihre Tochter, die Johanna, meiner Frau erzählt, und auch dat sie froh war, als der Alkohol den Alten endlich geholt hatte.«
    Gottfried hatte seine Erzählung von Zeit zu Zeit kurz unterbrochen, um an seinem Fünfundzwanzig-Pfennig-Stumpen zu ziehen, den er immer wieder neu anzünden musste.
    Edda hatte den alten Pommerenke bis zum Schluss gepflegt, auch als der schon nicht mehr gehen konnte, weder in de Kneip ´, wie sie das Haus mit der Bierquelle nannten, noch in den Flur, wo der breite Lederriemen hing. Von ihr hatte niemand erfahren, was sich in der kleinen Kutscherwohnung unter dem Dach des alten Schlosses abgespielt hatte, nicht einmal ihre Schwester, die mit dem Lehrer des Dorfes verheiratet war. Schließlich hatte jeder sein Päckchen zu tragen…
    Kurz nach Pommerenkes Tod hatte Edda begonnen, im Dorf die Post auszutragen, und sie, die bislang kaum ein Wort mit den Leuten gewechselt hatte, erzählte nun beim Verteilen der Briefe und Pakete in ihrer taubengrauen Uniform, was es an Neuigkeiten gab, nicht nur im Dorf, sondern auch anderswo. Es schien, als wolle sie alles nachholen, was sie durch ihr jahrelanges Schweigen versäumt hatte. So dauerte es oft mehrere Stunden bis sie mit ihrer schweren ledernen Tasche auf dem Fahrrad das Ende der Dorfstraße erreicht hatte, obwohl der Weg nicht einmal achthundert Meter weit war. Mein Haus war das letzte auf
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