Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
Vom Netzwerk:
Theke und fragte, wem das Haus, das mit dem Fachwerk, am Ende der Straße gehöre.
    »Da fragen Sie am besten ihn.« Der junge Mann mit dem aufgekrempelten karierten Hemd, das am Hals weit offen stand, deutete mit ausgestrecktem Arm auf einen Gast, der in weißer Maurerkluft an einem der Tische saß und sich gerade verabschiedete.
    Er kam langsam auf die Theke zu, legte einige offenbar genau abgezählte Geldstücke auf den Tresen und wandte sich zum Gehen.
    »Gottfried, er will was über das Haus deines Bruders wissen.«
    Der Wirt deutete auf mich und war neugierig, was nun weiter passieren würde.
    »Na, dann kommen Sie mal mit nach draußen«, sagte der Mann in dem Maureranzug in schleppendem Tonfall, nahm seine flache weiße Mütze ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen und ging dann leicht schaukelnd durch die Kneipentür hinaus, ohne auf mich zu warten.
    Im Grunde sei es kein Problem, das Haus zu erwerben, erklärte er mir auf der Straße, wenn ich mit seinem Zwillingsbruder über den Preis einig würde. Der sei sicher froh, wenn er die Steuern nicht mehr bezahlen müsse, weil er ja sowieso nicht mehr hier wohne, sondern schon seit zwei Jahren bei seinem Sohn in der Nähe Berlins. Allerdings solle ich mir nichts vormachen, da müssten viel Arbeit und Geld hineingesteckt werden, also wenn ich ihn fragen würde, wär´s besser, die Finger davon zu lassen. Das war der entscheidende Satz: Immer, wenn mir empfohlen wurde, etwas lieber zu lassen, konnte man sicher sein, dass ich genau das Gegenteil davon tat, und das hatte in den meisten Fällen wenig mit Vernunft zu tun.
    Acht Wochen später war ich der stolze Besitzer eines halbverrotteten Fachwerkhauses, einiger undichter Stallgebäude, eines verwilderten Gartens und einer Wiese von 1500 Quadratmetern. Den vorigen Eigentümer hatte ich nicht einmal zu Gesicht bekommen.
    »Stellen Sie sich Gottfried, den Maurer vor, nur mit Halbglatze und einem grauen Schnauzbart, dann wissen Sie, wie er aussieht«, hatte der Bürgermeister ihn beschrieben.
    Von ihm – der mich zu meinem neuen Besitz beglückwünschte – erfuhr ich auch, dass der beeindruckende Fachwerkbau Anfang des neunzehnten Jahrhunderts für den gräflichen Förster gebaut worden war. Allerdings hatte der Graf bald herausgefunden, dass es ein Fehler gewesen war, das Forsthaus ans Ende des Dorfes gesetzt zu haben, und nicht in den Wald, denn wenn sich der Forsthüter durch die Felder auf den Weg machte, erfuhren die Holz- und Wilddiebe jedes Mal durch ein ausgeklügeltes Warnsystem von der herannahenden Gefahr.
    Und während der Förster mit Flinte und Hund an der vorderen Seite den Wald betrat, verschwanden die Illegalen klammheimlich auf der Rückseite. Also wurde als Konsequenz daraus ein Forsthaus mitten im Wald errichtet, und der imposante Fachwerkbau am Ende des Dorfes diente fortan als Kaserne für die schlesischen Saisonarbeiter, die als Schnitter für einige Wochen im Dorf wohnten, bis das letzte Korn des Grafen vom Halm war und sie weiter zogen.
    Eine neue Bestimmung erhielt das Haus erst wieder kurz nach Kriegsende, als sich in den Räumen Flüchtlinge von jenseits der Oder drängten, argwöhnisch von der Roten Armee beobachtet, die hier auf dem Vormarsch ihren ersten Stützpunkt westlich des zukünftigen Grenzflusses errichtet hatte und deren Kommandant nun im Schloss des in Richtung Westen verschwundenen Grafen residierte.
    Nachdem die russisch sprechenden Sieger abgezogen waren, wurde das Fachwerkhaus dann dem Zwillingsbruder des Maurers zugesprochen, der zwanzig Jahre darin gewohnt hatte, ohne je eine einzige Reparatur vorgenommen zu haben, obwohl auch er das Maurerhandwerk erlernt hatte, wie der Bürgermeister mit einem bedeutungsvollen Blick hinzugefügt hatte.
    So war das Haus durch seine wechselvolle Geschichte und die 170-jährige Abnutzung nach und nach verfallen und dämmerte nun seinem Ende entgegen. Für mich hatte die Morbidität etwas Romantisches, und das Haus mit den mächtigen Eichenbalken etwas Unverwechselbares, was sich wohltuend von der Uniformiertheit der Betonarchitektur unterschied.
    Ich kam aus der Hauptstadt, wo ich in einem Nobel-Plattenneubau wohnte, in dem die Hausflure größer als die Wohnräume waren, und der sich äußerlich nur durch die Hausnummer von den anderen unterschied. Die Namen meiner Mitmieter kannte ich auch nach Jahren noch nicht, ich identifizierte sie über ihre Autos. Unter mir der mit dem weißen Wartburg , über mir, der mit dem roten
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher