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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts
Autoren: R Kuhnert
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Lada . Hier in diesem kleinen Flecken brauchte es etwa ein Jahr, bis ich wusste, wer in welchem Haus wohnte, und wie der eine oder die andere im Dorf angesehen waren. Das bedeutete aber keinesfalls, dass sie die Zurückhaltung mir gegenüber schnell aufgegeben hatten. Sie hatten gesehen, dass ich mich um das alte Haus kümmerte und dass ich selbst mit Hand anlegte. Das beobachteten sie genau und sie erkannten an, dass der Künstler aus Berlin sich nicht zu fein war, sich die Hände schmutzig zu machen. Wenn ich Hilfe brauchte oder den einen oder anderen Rat, war die Kneipe der Ort, wo alles ausgehandelt wurde, denn hier trafen sich die Männer des Dorfes, wenn es hieß: Eine Hand wäscht die andere. Und nach und nach erfuhr ich die Geschichten über die Bewohner des Dorfes, was der eine verschwieg, erzählte mir der andere, vor allem, wenn es nicht um ihn selbst ging. Mir konnte man das meiste anvertrauen, ich lebte zwar zeitweilig im Dorf, war aber mit niemandem verwandt und mein Geld verdiente ich auch anderswo. Ich genoss einen Status der Neutralität, ich, der Schriftsteller aus der fernen Hauptstadt.
    Und – wer weiß – vielleicht kam man ja auch einmal in einer meiner Geschichten vor, das wäre dann schon etwas Besonderes.
    Ursprünglich hatte ich nur ein Haus auf dem Land gesucht und war in das Dorf gekommen, um in Ruhe Geschichten
schreiben zu können, die ausnahmslos in der Stadt spielten.
    Ich hatte mir tatsächlich eingebildet, ich könne hier genauso anonym wie in dem Plattenkomfortbau der Hauptstadt leben, ohne ein besonderes Interesse an meinen Nachbarn zu zeigen, und ohne deren Neugier zu wecken, zumal ich im Dorf sogar ein eigenes Haus besaß und kein Geschrei durch die Betonwände mir die Beziehungsprobleme der Mitmieter aufdrängte.
    Nein, ich wollte nur möglichst ungestört meiner Arbeit an der Schreibmaschine nachgehen. Was die Bewohner des kleinen Dorfes bewegte, war so weit von meinen eigenen Problemen entfernt – so dachte ich –, warum sollte ich mich darum kümmern?
    Und warum sollten sie sich um mich kümmern?
    In der Stadt wäre ich ja auch nie auf die Idee gekommen, mit dem Grauhaarigen in Generalsuniform drei Stockwerke unter mir, der jeden Morgen im schwarzen Wolga abgeholt wurde, oder mit dem übergewichtigen Anzugträger aus der Etage über mir, mit dem roten Lada , den der an jedem Wochenende stundenlang putzte, ein Bier trinken zu gehen. Wir blieben noch nach Jahren einander fremd und namenlos, und etwas anderes hätte ich auch nicht gewollt. Wenn mir nach reden zumute war, traf ich mich mit Freunden und Kollegen, die überall verstreut in der Millionenstadt lebten und die dennoch alle im selben Boot saßen, was die Arbeit an den Theatern oder in den verschiedenen Medien anlangte.
    In langen Nächten mit Rotwein und Wodka leckten wir uns die Wunden, die uns von den heimlichen Zensoren und hörigen Kulturverwaltungen beigebracht worden waren, und alle empfanden wir uns dadurch als etwas Besonderes, denn auch in diesem subtilen, versteckten Kampf gegen die zumeist anonymen Gegner galt der Grundsatz: Viel Feind, viel Ehr´! Für mich allerdings stand eines fest: Ich konnte gern auf diese Ehre verzichten, auch deshalb die Suche nach einem Refugium. Zu der Zeit konnte ich ohnehin noch keine nennenswerten Blessuren vorweisen, und ich ahnte nicht, dass sich das schon sehr bald ändern sollte…
    Die Leute dort am östlichen Rand der Teilrepublik, die Kartoffeln, Rüben und Korn anbauten und ihr Vieh züchteten, hätte ich mit meinen Problemen ohnehin nicht hinter ihren alten Kachelöfen hervorlocken können. Also war es geradezu ideal, zwar unter ihnen zu leben, aber nicht mit ihnen. So hatte ich mir das jedenfalls vorgestellt. Das alternde Haus und die Bewohner des Dorfes machten mir einen Strich durch die Rechnung. Ich musste mich mit ihnen einlassen, denn sie waren diejenigen, die mir bei der Hausrettung helfen sollten, die aus oft unbekannten Quellen den Weißkalk, die Fensterrahmen, die Kabel, Wasserrohre, Toiletten- und Handwaschbecken und die fehlenden Fliesen für das Bad besorgen konnten. Und was sie mir nebenbei erzählten, schien höchst wenig mit dem zu tun zu haben, was Monat für Monat für Aufregung in der Hauptstadt sorgte, und das von den Regierenden absichtsvoll als täglicher Klassenkampf auf dem Weg zum Sieg des real existierenden Sozialismus bezeichnet wurde.
    Was für die Leute in Hohenfeld real existierte, war die Welt im und um das Dorf herum, gestern und
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