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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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hatte ich ihn in Erinnerung. So habe ich ihn in Erinnerung: aufrecht, für Sekunden erstarrt, ehe er einen Gedanken in einen Satz faßte, der mir um so gewichtiger erschien, je nachlässiger er dahingesagt wurde. Zum Beispiel – nicht ganz willkürlich aus meinen Notizen gelesen: »Welchen Wert das Leben eines Menschen hatte, zeigt sich in dem Wert, den jene, die seinem Leben Wert gaben, ihm in ihrem eigenen Leben weiterhin beimessen.« Um einen gleich darauf anzublicken und mit den Mundwinkeln zu zucken – als schäme er sich, daß ihm wieder einmal nur ein Zopf von einem Satz gelungen war; aber auch, als amüsiere er sich über unsere Begriffsstutzigkeit, die er wieder einmal aus ihrer Tarnung gelockt hatte.
    Carl war ein sehr reicher Mann; er war – wie ich im Verlauf der Recherche zu diesem Buch bestätigt bekommen habe – Erbe der Feinkost-, Süßwaren- und Kolonialwarenkette Bárány & Co. (das ist nach seinem Großvater Ludwig Bárány), die in mehreren Städten in Europa Kontore und Läden unterhielt oder an solchen beteiligt war. Vieles hatte er verkauft, nicht, weil er das Geld gebraucht hätte, als Universitätsprofessor verdiente er ja auch nicht schlecht, sondern weil er es irgendwann leid war, sich um die Geschäfte zu kümmern. Er war der großzügigste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Er legte Wert auf gute Kleidung, bevorzugte Anzüge aus Flanell in den Farben des Herbstes und hatte nie das Haus verlassen, ohne sich eine Krawatte umzubinden. Und so hielt er es auch, als ich ihn – sobald es meine Kräfte zuließen – im Rollstuhl ins Dorf und zum Friedhof vor das Grab von Margarida schob, die dort seit neunzehn Jahren lag, oder wenn ich mit ihm, wie es bald unsere tägliche Gewohnheit wurde, durch den Schneematsch an der Lanserbahn entlangfuhr und über die langen flachen Stufen hinunter zum Lansersee. Sein Mantel mit dem eingeknöpften Winterfutter war mir vertraut wie ein eigenes Kleidungsstück; ich kannte ihn seit meiner Kindheit, er hatte sich immer wieder neue Stücke anfertigen lassen, jedes nach dem Muster des ersten. Wir haben uns übrigens nie umarmt. Daß er mich mit den Händen bei den Oberarmen hielt, das schon. Sein Spezialgebiet war die Zahlentheorie gewesen, über die er einmal sagte, sie sei »schön und ohne Sinn wie das Leben und wie dasselbe bestehend aus einer Aufeinanderfolge von Problemen und Lösungen, was, weil die Aufeinanderfolge sich unendlich fortsetzt, schließlich auch den Begriffen Lösung und Problem jeden Sinn nimmt«.
    Zwanzig Tage blieb ich bei ihm. Dann fuhr ich zurück nach Wien und hörte seine Stimme nie mehr wieder. Ich rief bei ihm an, Mobil und Festnetz; er nahm nicht ab. Mehrmals am Tag rief ich an; ich sprach auf den Anrufbeantworter, bat ihn, mich zurückzurufen. Er rief nicht zurück. Schließlich erhielt ich einen Anruf von seiner Pflegerin Frau Mungenast. Sie teilte mir mit, daß Professor Candoris am Abend in seinem Bett eingeschlafen und am Morgen nicht mehr aufgewacht sei.
    Mein Name ist Sebastian Lukasser. Ich bin Schriftsteller, zweiundfünfzig Jahre alt und lebe in Wien, allein; unterhalte eine Beziehung zu einer Frau, die achtzehn Jahre jünger ist als ich und die das, was wir miteinander haben und was wir füreinander sind, genau so bezeichnet hat, nämlich als Unterhaltung – wogegen ich viel einzuwenden hätte, allerdings nicht das, was sie sich erhofft.
    Vor langer Zeit war ich verheiratet. Ich habe einen Sohn; er wohnt bei seiner Mutter in Frankfurt; vor einem Jahr hat er mich besucht, da hat er mich zum erstenmal aus bewußten Augen angeschaut. Wir saßen zusammen in meiner Küche, als Frau Mungenast anrief.
    Meine Mutter lebt noch, mein Vater nicht mehr. Meine Mutter habe ich fünfzehn Jahre lang nicht gesehen, erst wieder bei Carls Beerdigung. Dieses Buch wird auch das Resümee meiner Familie werden, und ich befürchte, ich trete damit für immer aus ihr heraus; was natürlich eine Illusion ist, denn unsere Familie hat bereits mit Carls Tod aufgehört zu existieren.
    Carl hatte nie viel übrig gehabt für Gesprächsverzierungen. Ich war noch keine fünf Minuten in Lans, hatte das Haus noch gar nicht betreten – wir saßen in der Februarsonne im Schutz des an der Wand aufgestapelten Brennholzes –, da kam er bereits auf das Wesentliche – sein Wesentliches! – zu sprechen, nämlich, daß er mehr von mir wolle, als daß ich ihm lediglich an seinem Ende etwas Gesellschaft leiste. Ob ich mir vorstellen könne, etwas über
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