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Abendland

Abendland

Titel: Abendland
Autoren: Michael Köhlmeier
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das Geheimnis des Charismatikers, sagt der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton sinngemäß, daß große Gunst zu gewähren und große Gunst vorzuenthalten aus seinen Händen zu ein und derselben Geste werden. Das Vertrauen, das uns Carl entgegenbrachte, hätten wir uns selbst niemals entgegengebracht; es war entweder übermenschlich oder unglaubwürdig. Im ersten Fall hätten wir nur enttäuschen können; im zweiten wäre sein Umgang mit uns nichts weiter als ein Spiel gewesen, bei dem wir, weil wir Figur oder Würfel oder beides waren, logischerweise nicht nachvollziehen hätten können, was daran lustig sein sollte.
    Am Anfang unserer Familie war Carl; ihr Keim war gepflanzt in seiner ersten Begegnung mit meinem Vater. Als er meinen Vater zum erstenmal gesehen habe, erzählte Carl, sei nach wenigen Minuten in ihm beschlossen gewesen, daß er sich mit ihm anfreunden wollte, daß er ihm – er betonte – »demütig« folgen und alle Schwierigkeiten beiseite räumen wollte, die sich mit Sicherheit über dem Weg dieses Mannes türmen würden.
    Carl und mein Vater waren so verschieden, wie zwei Menschen nur verschieden sein können. Sie lernten einander in Wien nach dem Krieg kennen; mein Vater war vierundzwanzig, Carl bereits vierzig. Wer schon einmal ein Bild des amerikanischen Folksängers Woody Guthrie gesehen hat, dem brauche ich meinen Vater nicht zu beschreiben – klein, sehnig, zäh, widerborstige dunkle Locken, das Gesicht hager und blaß, im unteren Teil grau von den unbändig nachdrängenden Bartstoppeln, ernste alte Augen, ernster Mund, sogar wenn er bis über die Stockzähne lachte, was ansteckend war, aber immer auch etwas Konspiratives, Rattenhaftes an sich hatte. Irgendwann in den sechziger Jahren zeigte ich ihm ein Bild von Woody Guthrie, und er glaubte selbst, er sei es. Guthrie hatte auf dem Foto eine Gitarre im Arm – »Was ist das für eine Gitarre? Ich hab’ doch nicht so eine Gitarre!« –; an der Gitarre erkannte er, daß es ein anderer war; meine Mutter und ich haben uns schief gelacht.
    Wie Woody Guthrie war mein Vater Musiker, und er war nie etwas anderes gewesen. Während des Krieges hatte er Miete, Essen und Versicherungen für sich und meine Großmutter verdient, indem er als der Contragitarrist in einem Schrammelquartett in den Heurigenlokalen auftrat, in Grinzing und Döbling, nach dem Krieg auch in den vom Bombenschutt freigelegten Kaffeehäusern und Schanigärten der Innenstadt. Mein Großvater lebte nicht mehr. Auch er war Musiker gewesen, auch er hatte die Contragitarre gespielt; das Lukasser-Quartett war in den dreißiger und vierziger Jahren die erfolgreichste Schrammelformation der Stadt gewesen. Mein Vater hatte eine Handelsschule besucht, aber vorzeitig abgebrochen und sich ab seinem sechzehnten Lebensjahr ganz der Musik verschrieben; nach dem Tod meines Großvaters übernahm er das Quartett. Er mochte es übrigens nicht, wenn man ihn einen Musiker nannte, er sagte: »Ich bin ein Musikant. Mein Vater war ein Musikant, und ich bin ein Musikant.« Später, als er längst schon keine Schrammelmusik mehr spielte, bildete er sich eines Tages aus heiterem Himmel ein, die »Fachwelt« (ein Wort, das er stets mit einer für mich beschämenden Unterwürfigkeit aussprach) lache über Musikant als Berufsbezeichnung – von da an bestand er darauf, Musiker genannt zu werden.
    Hauptsächlich aber trat er nach dem Krieg in den diversen Jazzlokalen auf, die vor allem in den amerikanisch besetzten Bezirken der Stadt eröffneten – in den ersten Monaten 1946 jede Woche eines. Die bekanntesten Lokale waren im Keller vom Café Landtmann, im Souterrain vom Rondell-Kino in der Riemergasse und die Bijou-Bar in der Naglergasse; der Embassy-Club in der Siebensterngasse im siebten Bezirk war der vornehmste Club, er wurde von einem Amerikaner geführt und war ausschließlich für amerikanische Soldaten gedacht. (Die Musiker, die hier spielten, waren fast alle schwarz, die Zuhörer ohne Ausnahme weiß.) Österreicher durften das Lokal nur in Begleitung oder unter Vorlage einer schriftlichen Empfehlung eines (weißen) US-Bürgers besuchen. Aber nur wenige Einheimische konnten sich Eintritt und Getränke leisten, gern gesehen waren sie in jedem Fall nicht.
    Im Embassy-Club hörte Carl meinen Vater zum erstenmal. Mein Vater betrat allein die Bühne, für seine Musik ließ sich nicht so ohne weiteres eine Band zusammenstellen. Der Besitzer bat die Gäste, ihre Unterhaltungen, und die
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